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Einleitung

Im Jahre 1969 kritisierte Werner Krüger das "...fast völlige Fehlen..." von Karikaturen in den "gebräuchlichsten Schülerhandbüchern...als illustratives Arbeitsmittel...." Daran hat sich in den vergangenen dreißig Jahren einiges geändert. Nahezu jedes aktuelle Geschichtsbuch für die Sekundarstufe I oder II setzt spätestens mit dem Beginn der Französischen Revolution auch Karikaturen ein, und es gibt in Handbüchern, in Zeitschriften und als Monographien eine Vielzahl von Arbeiten zu diesem Themenkomplex. Aber auch der methodische Einsatz des Mediums kommt heute vielfach der Kritik Krügers aus dem Jahre 1969 entgegen. Häufig finden nun Karikaturen "illustrative" Verwendung im Geschichtsunterricht. So werden zu behandelnde (Einstiegsphase) oder behandelte (Schlußphase) Themen durch Karikaturen "veranschaulicht" oder gar "verdeutlicht": Ein fiktiver Kommentar eines fiktiven Lehrers mag da lauten: "Seht her, dieser kritische Karikaturist ist 1848 zur selben Einschätzung gekommen wie wir." Wenn der Macher des Schulbuches eine Karikatur von Th. Th. Heine veröffentlicht, mag das Ergebnis des illustrativen Einsatzes zumeist noch einsichtig sein. Was ist aber, wenn die Karikatur im Schulbuch aus dem nationalistisch gesonnenen Kladderadatsch zum Thema Versailler Vertrag entnommen wurde und Lehrer wie Schüler kennen die Position dieses Satiremagazins gar nicht? In diesem Fall könnte das Ergebnis der Stunde lauten: "Deutschland muß sich berechtigterweise gegen die aggressive französische Außenpolitik zur Wehr setzen...". Zugegeben das ist nur ein Gedankenspiel, aber es mag die Intention dieser Sequenz verdeutlichen. Grundlage für die folgenden Überlegungen ist die Notwendigkeit, SchülerInnen in ein immer noch aktuelles Medium des politischen Meinungskampfes einzuführen. Nahezu jede Zeitung und Zeitschrift bringt heute graphisch gestaltete Kommentare zu als bedeutsam erachteteten Ereignissen und Themen. Bei der politischen Karikatur handelt es sich somit um eine besondere Form der engagierten künstlerischen Graphik, die zu einem Thema oder einem Ereignis Stellung bezieht. Karikaturen sind nicht aus dem Prozeß der gesellschaftlichen und politischen Meinungsbildung wegzudenken. Damit greift der Einsatz von Karikaturen weit über das Fach Geschichte hinaus. Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Karikaturen liegt ganz besonders in der Qualifizierung der Schüler für das eigene politische Alltagsleben.
Das Problem des Einsatzes von Karikaturen reicht jedoch viel weiter, wenn diese nicht zur Illustration des Geschehens, sondern als historische Quelle eingesetzt werden sollen.


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Die politische Karikatur als Medium der historischen Bildung

Beschäftigung mit Karikaturen im Unterricht erfordert eine theoretische Vorarbeit. Zudem muß die Eignung dieses Mediums für den unterrichtlichen Einsatz geprüft werden, um die Möglichkeiten, aber auch die Gefahren des Einsatzes von Karikaturen im Unterricht einschätzen zu können.

I.1 Ein Dokument der Geschichte - die Karikatur

Wann und wo die Karikatur als das entstand, was heute annähernd unter diesem Terminus verstanden wird, ist kaum nachzuvollziehen. Vielfach werden die Anfänge der Karikatur bis in die Zeit Ramses III. zurückverfolgt. Auch in der griechischen Kunst finden sich karikierende Darstellungen (z.B. der Mythen), vor allem in der Vasenmalerei. Ebenso wurden in der römischen Kunst Mischwesen aus Mensch und Tier und groteske Deformationen des Körperbaus dargestellt.
Auch im Mittelalter nutzten Künstler die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um Stellung gegenüber Kirche, Papst und Fürsten zu beziehen. Dazu konnte es jedoch erst kommen, nachdem mittelalterliche Künstler das, was sie dem Spott preisgeben wollten, auch durchschauten oder sich zumindest nicht mehr allzu sehr davor fürchteten. Diese mittelalterlichen Satiriker waren Buchmaler, Kunstschnitzer oder Steinmetze. Gerne wurden Frauen dem Spott preisgegeben, oft in einer anstößigen Verbindung mit einer Teufelsgestalt. Aber auch auf die Schwächsten der mittelalterlichen Gesellschaft wurde keine Rücksicht genommen: die Juden. Dabei wurde der schon aus dem Altertum bekannte Weg der Tierallegorien weitergeführt. Zweierlei Vorzüge hatte diese Vorgehensweise: Erstens mußte nur das Tier zu erkennen sein, um die jeweilige Bedeutung transportieren zu können, und andererseits war die christliche Tiersymbolik allgemein geläufig. Der Vorteil liegt auf der Hand - schon die geringste Anspielung wird verstanden. "Einfache" Karikaturisten unserer Zeit nutzen den Vergleich mit Tieren heute noch mit Erfolg. Gleichermaßen dürfte der Gegensatz von christlicher Moraltheologie und gelebter Realität bei den Betrachtern jener Zeit zumindest das gleiche Schmunzeln erzeugt haben wie in unserer Zeit die allzu häufig benutzte Zigarre... Aber auch der "homme bestial", die Totentänze und die Bilder der "Verkehrten Welt" dienten der - wenn auch indirekten - Kritik an den herrschenden Zuständen. Ein herausragender Meister der Konfrontation war Hieronymus Bosch (ca. 1450-1516). Seine Bilder vereinen das Unvereinbare. Die Gesellschaft, wie er sie sah, wurde der Gesellschaft, wie sie sein sollte, gegenübergestellt.
Das ausgehende Mittelalter lieferte nicht nur auf dem Gebiet der Bildersprache, sondern auch auf dem Gebiet der technischen Reproduktion die Basis für den sich anbahnenden großen Erfolg der Karikatur: Buchdruck, Papierherstellung, Holzschnitt und Kupferstich sollten den Bildern ihre Verbreitung sichern. Reproduzierbarkeit gilt heute, neben der Absicht, etwas erreichen zu wollen, als wesentliches Merkmal der Karikatur. Aus diesem Grunde lassen viele Autoren die Geschichte der Karikatur mit den ersten brauchbaren Druckstöcken beginnen.
Reformation und Bauernkrieg ließen eine wahre Bilderflut von Schmäh- und Schandbildern über Europa und ganz besonders das Heilige Römische Reich deutscher Nation herniedergehen. Die Drucker, Holz- und Kupferstecher übersetzten das von Theologen und Literaten Erdachte in für das Volk verständliche bildhafte Formen. Luther selbst ließ Spottbilder gezielt in Umlauf setzen. Die oft anonymen Künstler trieben das von den Schreibern Angesprochene vielfach auf die Spitze, wobei die Anonymität wirksamen Schutz gegen die Verfolgung durch die Verspotteten gab - auch hieran hat sich bis heute nicht viel geändert. Tierallegorien, der "homme bestial", das Mittel der Konfrontation wurden auch hier eingesetzt.
Neue Formen der graphischen Umsetzung kamen zu dieser Zeit über die Alpen. Die italienische Renaissance bereitete auch hier den Boden für bis in unsere Zeit gültige Maßstäbe. Italienische Künstler versuchten die Schönheit in Regeln und Formeln umzusetzen und stellten fest, daß es zwischen den Gesetzmäßigkeiten der Schönheit und dem, was die Menschen auszeichnet, erhebliche Unterschiede gab. Nicht jede Figur war regelmäßig, nicht jedes Gesicht entsprach dem Ideal. Die Differenz der Natur zum Ideal, das Charakteristische (z.B. eines Gesichts) wurde von ihnen genauer untersucht. So entwickelte sich die Methode, das Charakteristische eines Menschen mit den zur Verfügung stehenden künstlerischen Mitteln dem Betrachter deutlicher zu machen. Jetzt wurden die Mittel der Verzerrung ("Zerrbilder"), Reduktion und Übertreibung (Hyperbel) eingesetzt. Der Künstler analysierte das zu zeichnende Objekt in Hinblick auf das ihm eigene charakteristische Merkmal. Das Charakteristische bzw. die Diskrepanz zum Ideal wurde nun dadurch besonders herausgearbeitet, indem Nebensächlichkeiten reduziert wurden und so eine Konzentration auf besondere Charakteristika gelang. Annibale Carracci (1560-1609) sei hier hervorgehoben. Die italienischen Künstler stellten bald fest, daß die Vereinfachung der Formen der Aussagekraft einer Zeichnung zugute kommt. Abkürzung und Vereinfachung sollten jedoch nicht die einzigen Stilmittel sein, mit denen z.B. Carracci arbeitete. Auch wurden mit der gezielten Verschiebung von Proportionen im Vergleich zu menschlichen Körpern gearbeitet und somit bewußt disproportionierte Porträts geschaffen. Bis weit in das 18. Jahrhundert blieben die italienischen Künstler führend im Bereich der Graphik. Hervorzuheben sind weiterhin die Italiener Giovanni Lorenzo Bernini (1598-1680, z.B. "Papst Innocenz XI.", zwischen 1676 u. 1680) und Pier Leone Ghezzi (1674-1755, z.B. "Der Geheimschreiber des Kurfürsten von Sachsen", 1750). Bernini überwand dabei die Darstellung des bloß äußeren eines Menschen und gelangte zu Darstellungen des "Inneren", in dem er die Formen noch weitaus knapper hielt und jegliche Weitschweifigkeit vermied, wodurch die Zeichnungen an Schärfe und Ausdruckskraft gewannen. Bernini hingegen vereinfachte weniger. Er arbeitete mit dem Mittel der Formverschiebung. Widersprüche machte er deutlich, indem er Körpermerkmale unterdrückte oder besonders hervorhob. Nicht mehr nur das Porträt war nun von Bedeutung, sondern die ganze Gestalt wurde berücksichtigt. Klugheit, Verworfenheit, Liederlichkeit, Bosheit und Engstirnigkeit waren nun darstellbar und für jeden Betrachter erkennbar geworden. Der oder die Abgebildete wurden nun nicht mehr einer kleinen Schar von Gebildeten vorgeführt, sondern das Volk lachte über seine Könige und Päpste. Spottbilder erschienen Ludwig XIV. so gefährlich, daß sie ein Opfer der Pressegesetze wurden. Es brauchte jedoch seine Zeit, bis sich die klaren Linien der Italiener durchsetzten. Die politischen und religiösen Konflikte des Dreißigjährigen Krieges brachten eine Flut von Schmäh- und Spottbildern hervor, doch bevorzugten die Zeichner symbolische oder allegorische Motive. Viele Bilder bedurften der schriftlichen Erläuterung, um das Gemeinte zu verdeutlichen. So waren diese Blätter lediglich für die wenigen Alphabeten von Interesse. Der von uns als Lehnwort verwendete Terminus "Karikatur" geht auf die besondere Wirkung der italienischen Künstler im Europa des 17. und 18. Jhdts. zurück. Das italienische Verb caricare kann mit laden, beladen, überladen, belasten, angreifen und übertreiben oder verzerren (daher der auch verwendete Begriff "Zerrbilder") übersetzt werden. Der caricaturista ist der Karikaturist. Die gegen gesellschaftliche Mißstände gerichteten Schmäh- und Schandbilder des Mittelalters und der frühen Neuzeit hatten sich aufgrund der Meisterhaftigkeit der italienischen Künstler zur Karikatur, wie wir sie auch heute noch kennen, weiterentwickelt.
1689 war das wohl wichtigste Jahr in der Entwicklung der europäischen Karikatur. Die "Bill of Rights" garantierte u.a. das Recht der freien Meinungsäußerung in Wort, Bild und Schrift. Ohne die knebelnde Zensur Kontinentaleuropas beherrschten die englischen Graphiker im 18. Jhdt. den Schauplatz der europäischen Karikatur. Die Meinungsfreiheit in England - im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten - und das Interesse auch der einfachen Menschen führten zu einem Stil, der drastisch und oft genug ausgesprochen grob war, aber alle Betrachter konnten die Karikaturen verstehen. Zu nennen wären hier z.B. William Hogarth (1697-1764), der Symbole, Allegorien, Tierfiguren und Deformationen für seine Graphik nutzte, und James Gillray (1757-1815), der gleichermaßen scharfe Kommentator des britischen Königshauses, des Bürgertums, aber auch der französichen Republik und Napoleons. 1841 wurde der Punch gegründet, der über lange Jahre die Karikaturisten in ganz Europa maßgeblich beeinflussen sollte.
Im Frankreich der großen Revolution gewannen Karikaturen mehr und mehr an Bedeutung. Zwei Zeitungen erschienen sogar mit Karikaturen auf ihrer Titelseite. Mit der Verschärfung der innen- und außenpolitischen Lage wurden zur Rettung der Republik alle Mittel eingesetzt. Am 12.9.1793 faßte der Wohlfahrtsausschuß folgenden Beschluß:
"Der Deputierte David erhält den Auftrag, alle Talente und Mittel...mit dem Ziel einzusetzen, die Zahl jener Kupferstiche und Karikaturen zu vermehen, welche sich eignen, die öffentliche Meinung wachzurütteln und dem Volk vor Augen zu führen, daß die Feinde der Freiheit und der Republik nicht nur grausam, sondern auch lächerlich sind." Die revolutionären Karikaturen waren in zweierlei Hinsicht in Kontinentaleuropa neuartig: Erstens waren ihre Inhalte ohne Rücksicht auf Zierat auf eine Pointe verdichtet und zweitens waren sie für jedermann verständlich. Zudem erleichterte die Erfindung des chemischen Steindrucks (1798/99) bzw. des Flachdruckverfahrens (Lithographie) die Massenproduktion von Druckerzeugnissen.
Als der revolutionäre Elan verflog, waren es nicht mehr die Franzosen, für die die Waffe der politischen Karikatur großen Nutzen brachte - Napoleons Inlandszensur verhinderte dies -, nunmehr wurde die Karikatur im Kampf gegen den Korsen eingesetzt. Und wieder kamen die besten Zeichnungen aus England, so z.B. die Figur des "Little Boney" von James Gillray. Die Bedeutung, die Karikaturen beigemessen wurde, ist daran ersichtlich, daß britische Karikaturen aufs Festland geschmuggelt wurden.
Nach der Machtübernahme der Bourbonen herrschte wieder Ruhe im Land, die Zeichner kümmerten sich mehr um das Ehe- und Liebesleben der Bürger als um die große Politik. Mit der Julirevolution änderte sich die Situation. Bereits im Herbst 1830 wurde die La Caricature von Charles Philippon (z.B. La Poire Philipon, 1831) gegründet, die immer mit zwei Bildtafeln erschien. Im Dezember 1832 folgte der Charivari, der täglich erschien und mit einer Bildseite aufmachte. Für die La Caricature arbeitete auch Honoré Daumier (1808 - 1879), dessen Lithographie "Le Ventre législatif" 1834 ein phantastisches Spiel mit Licht und Schatten treibt. Daumier beherrschte aber auch die Fähigkeit, mit präzisen und eleganten Strichen zu arbeiten und so die Reduktion auf das Notwendige immer weiter zu vervollkommnen.
In der 48er Revolution tat sich der Charivari hervor, und er ließ sich lange auch von Louis Bonaparte nicht einschüchtern. Der Verleger des Charivari unterstützte zudem junge Künstler, so förderte er auch Gustave Doré (1832-1883, z.B. "Die Wölfe", 1854). Trotz des schrecklichen Endes der Kommune und des Rückzugs vieler kritischer Geister blieb Paris auch nach 1871 der Mittelpunkt der europäischen Kunstszene. Die zunehmenden Transport- und Reisemöglichkeiten trugen dazu bei, daß sich der Stil der französischen Karikaturisten in Europa durchzusetzen begann.
Die wachsende Bedeutung des Mediums Karikatur läßt sich in den oben genannten Zeitungen wiedererkennen, denn ohne einen Markt für das Produkt Karikatur hätte es kein Verleger gewagt, sein Geld zu riskieren.
Die Jahrzehnte vom Scheitern Napoleons bis zur 1848er Revolution waren in den deutschen Ländern von künstlerisch wenig hervorragenden und politisch sehr zurückhaltenden Karikaturen bestimmt. Weder hatten die Bürger Interesse daran, sich den Spiegel vorhalten zu lassen, noch ließ die Zensur den Zeichnern und Verlegern auch nur das Geringste durchgehen. Der "Biedermeier" regierte. Auch hatten die deutschen Zeichner offensichtlich nicht den Drang, sich zu beschränken, eine Pointe treffsicher zu zeigen und zu kommentieren. Viele Zeichnungen sind weitschweifig und wollen zu viel erzählen. Sie treffen nicht den Punkt, vielmehr verlaufen sie sich in der Masse des Dargestellten. Ingrid Heinrich-Jost bemerkt dazu treffend:
"Die deutschen Länder hinkten in ihrer historischen Entwicklung der Emanzipation des Bürgertums hinter England und Frankreich her. Da Karikatur und Satire immer in direktem Verhältnis zur Gesellschaft stehen, die Objekt und Subjekt der Auseinandersetzung zugleich ist, blieb auch deren Entwicklung hinter der des Auslandes zurück."
Die Aufhebung der Zensur in fast allen deutschen Staaten im Verlauf der 1848er Revolution wußten auch die Karikaturisten und ihre Verleger zu nutzen. Folgende satirische Zeitschriften entstanden zu dieser Zeit: Fliegende Blätter, Münchner Punsch (beide München) , Eulenspiegel (Stuttgart), Reichsbremse (Leipzig), Wiener und Berliner Charivari. Einzig der Kladderadatsch (gegr. 7. Mai 1848) überstand die Zeit nach der Niederschlagung - wahrscheinlich aufgrund seiner guten Kontakte zur Polizei. Auch verstanden es Texter und Zeichner des Kladderadatsch, niemanden ernstlich in die Quere zu kommen, man war "gemäßigt". Man ärgerte die Herren, aber man tat keinem Junker ernsthaft weh. Im Laufe der Jahre entwickelte sich der Kladderadatsch zu einem Bewunderer Bismarcks, einem Feind der Sozialdemokratie und zu einem Verfechter großdeutscher Machtansprüche.
Die große Masse der politischen Karikaturen dieser Zeit dürfte jedoch als Flugblätter erschienen sein; das hatte mehrere Gründe: Kein Verleger wollte mit einer wahrhaft beißenden Karikatur seine Zeitung riskieren, die Flugblattdrucker konnten ihre Produkte schneller auf den Markt bringen, weil sie nicht auf ein Gesamtprodukt Rücksicht nehmen mußten, die Holzschneider der Zeitungen brauchten erheblich mehr Zeit als die Lithographen der Flugblätter.
Die Anzahl der in Deutschland erscheinenden Zeitschriften, welche auf Karikaturen ausgerichtet waren, stieg nach 1871 stark an, so wurden gegründet: Ulk (1872), Doktor Eisenbart (1873), Puck (1876, konservativ), Schalck (1878), Lustige Blätter (1886, Freisinn), Der wahre Jakob (1879; 1884 ff.; sozialdemokratisch) und der Simplicissismus (München, gegr. v. Albert Langen 1896). Künstlerisch an erster Stelle stand der Simplicissismus mit Zeichnern wie Karl Arnold (1883-1953, z.B. "Neue Typen", 1924) Thomas Theodor Heine (1867-1948, z.B. "Eine unverschämte Person", 1896), Bruno Paul (1874-1954, z.B. "Meuterei auf dem russischen Staatsschiff", 1905), Wilhelm Schulz (1865-1952, z.B. "Die Vergessenen", 1906), Eduard Thöny (1866-1950, z.B. "Gekränkter Ehrgeiz", 1932) und Olaf Gulbrannsson (1873-1958, z.B. "Erbauung", 1921).
Heine und Paul bildeten innerhalb des Simplicissismus künstlerisch zwei Gegenpole. Heine vertrat und entwickelte für sich die (Jugendstil-) Linie weiter, Bruno Paul hingegen ließ sich von Holzschnitten und großflächigen, farbigen englischen Plakaten anregen und arbeitete mit großen Farbflächen. Heines Karikaturen waren elegant, Pauls hingegen hatten Durchschlagskraft.
Mit seinen Farbflächen und der Linienführung beeinflußte der Simplicissismus auch den im Vergleich rechts stehenden Kladderadatsch.
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verhalf den Künstlern zu unzensierten Freiräumen, stellte die Blätter aber vor die Entscheidung, auf welche politische Seite sie sich stellen wollten. Viele Zeitschriften entschieden sich für die gesellschaftliche "Mitte", so z.B. der Simplicissimus. Da das Produkt verkauft werden mußte, bildete die "Mitte" natürlich das Bürgertum, welches jedoch gegenüber der jungen Republik in weiten Kreisen überaus kritisch eingestellt war. Zwei außerhalb der renommierten Blätter stehende Künstler erreichten ein anderes Publikum: George Grosz (1893-1953, z.B. "Prost Noske", 1919) und John Heartfield (Helmut Herzfelde, 1991-1968, z.B. "Nach zehn Jahren: Väter und Söhne", 1924). Beide kamen aus der Dada-Bewegung. Grosz´ Karikaturen kannten nichts Versöhnliches mehr. Hier zeigt der Künstler, wie mit dem Skalpell herausgetrennt, die rechten und antidemokratischen Geschwüre der Republik. Seine Form ist einfach und klar - Humor bei Grosz ist, wenn man trotzdem lacht. Ähnlich die Wirkung der Arbeiten Heartfields, doch dieser erreichte sein Ziel auf anderem Wege. Er arbeitete mit dem Mittel der Photomontage und veröffentlichte seine "Produkte" in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ). Nach der Machtübernahme der NSDAP hatten Zeitschriften wie die Fliegenden Blätter, der Kladderadatsch und der Simplicissimus wenig Mühe, sich auf die neuen Machthaber einzustellen. Die "offizielle" Karikatur, die z.B. in Zeitschriften erschien, wurde zu einem Mittel der Propaganda. Th. Th. Heine wehrte sich gegen die NS-Sympathisanten wie O. Gulbransson in der Redaktion des Simplicissimus, und emigrierte. Viele der Emigranten arbeiteten im Exil weiter, z.B. für die deutschsprachigen Exilzeitungen in Prag, oder sie organisierten Ausstellungen und versuchten so, gegen das NS-System zu arbeiten. Auch im Kriege war die Karikatur für beide Seiten von Nutzen. Jetzt wurden Hitlerkarikaturen nach Deutschland gebracht - sie wurden nicht geschmuggelt, wie die Karikaturen Napoleons, sondern von Bombern abgeworfen. Auf deutscher Seite wurden die Kriegsgegner lächerlich gemacht und die Opfer des NS-Terrors verhöhnt.


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I.2 Versuch einer Begriffsbestimmung der politischen Karikatur

Der Beginn einer jeden Graphik und damit auch jeder Karikatur ist die Handzeichnung. Diese stellt das Gemeinte ohne sprachliche Mittel dar, doch kommt ihr durchaus die Bedeutung eines (oder mehrerer) sprachlichen Zeichens zu. Erich Kästner erklärte dazu: "Der Zeichner und der Schriftsteller sind Zwillinge", und Georg Lukács Worte zur Literatur sind auch auf einen (guten) Karikaturisten übertragbar:
"Die Fähigkeit der großen Dichter, typische Charaktere und typische Situationen zu schaffen, geht weit über die richtige Beobachtung der Alltagswirklichkeit hinaus. Die tiefe Kenntnis des Lebens beschränkt sich niemals auf die Beobachtung des Alltäglichen. Sie besteht vielmehr darin, aufgrund der Erfassung der wesentlichen Züge Charaktere und Situationen zu erfinden, die im Alltagsleben völlig unmöglich sind, die jedoch jene wirkenden Kräfte und Tendenzen, deren Wirksamkeit das Alltagsleben nur verworren zeigt, in der Klarheit der höchsten und reinsten Wechselwirkung der Widersprüche aufzuzeigen."
Denn so wie der Literat mit dem Mittel der Sprache seine Welt deutet, so interpretiert der Zeichner die Welt durch seine Bilder. Heinrich Heines Deutschland, ein Wintermärchen zeigte mit literarischen Mitteln die Probleme Deutschlands auf, wie Philipon und Daumier die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Frankreich. Die Anwendung lediglich formaler Begriffe zur Definition der Karikatur greift zu kurz. Würde allein der - mehr oder weniger - künstlerische Weg des Schaffenden für die Begriffsbestimmung Gültigkeit haben, z.B. der Grad der karikaturistischen Verzerrung oder Deformation, dann könnte der Begriff auf seltsame oder skurrile Phantasiegebilde und unendlich viele Scherz- und Witzzeichnungen (Cartoons) Anwendung finden. Jedoch ist viel mehr gemeint, wenn von Karikatur die Rede ist. Eine Karikatur dient weder der l´art pour l´art noch nur der Erheiterung, sie will nicht ein Kunstwerk sein oder nur zum Schmunzeln oder Lachen anregen. Die Karikatur will etwas bewirken, sie will Stellung beziehen und eine Vielzahl von Betrachtern von der Richtigkeit dieser Stellungnahme mit ihren Mitteln überzeugen. Hierdurch handelt es sich bei einer Karikatur immer um eine Beurteilung einer Situation aus ihrer Zeit heraus .
H. Krüger und W. Krüger stellen dazu fest:
"Die historische Karikatur hat eine spezifische historische Realität und Authenzität. Sie war zur Zeit ihrer ersten Veröffentlichung an den Vorgängen tatsächlich beteiligt, gehört also zur Geschichte als Geschehen und nicht zur Geschichte als dargestellte Vergangenheit"
Die Pointe der Zeichnung muß sich einprägen, das Besondere, z.B. das Charakteristische einer Figur, muß überdeutlich hervortreten. Knappheit und Verdichtung sind das Wesentliche einer gelungenen Karikatur; Umständlichkeit und Übertreibung sind ihre Gegner. Reduzierung auf das Wesentliche dient außerdem dazu, eine fehlerhafte Aufnahme beim Rezipienten zu vermeiden, welche durch ein Zuviel an Information entstehen könnte. Dabei steht die Karikatur immer im Bezug zur Gesellschaft, der jeweiligen politischen und historischen Situation, ohne die sie niemals hätte entstehen können. Dabei geht es der Karikatur um die Entschlüsselung einer tieferen Wahrheit, einer Wirklichkeit und damit auch um ein Urteil aus der Sicht des Karikaturisten, welches er dem Betrachter zum Augenschein bringt. Somit hat das, was hier als Karikatur bezeichnet wird, stets eine auf die Durchsetzung bestimmter Ziele oder eine auf die (Mit-) Gestaltung des öffentlichen Lebens ausgerichtete Funktion. Und eben diese Funktion bedarf bei jeder Karikatur der genauen Bestimmung. H. Uppendahl weist der politischen Karikatur soviel gesellschaftliche Bedeutung bei, daß er sie als "Seismographen historischer Krisensituationen" bezeichnet.
Die Bedeutung der öffentlichen Funktion zu betonen heißt aber auch, darauf hinzuweisen, daß eine kritische Graphik, die zu ihrer Zeit weder veröffentlicht noch z.B. in einer Ausstellung einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, zu ihrer Zeit keine öffentliche bzw. meinungsbildende Funktion hatte und entsprechend der obigen Definition nicht als (politische) Karikatur angesehen werden kann. Das gilt auch, wenn diese kritische Graphik aufgrund ihres Inhaltes oder ihrer herausragenden künstlerischen Gestaltung dem heutigen Betrachter besonders auffällt. Dieser Begriffsbestimmung folgt die vorliegende Arbeit. Die Feststellung von Manfred Faust, daß
"... die Geschichte zeigt, daß die Karikaturen bzw. Karikaturisten in ihrer großen Mehrzahl konsequent auf der Seite derjenigen standen, die für mehr Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit fochten...",
ist nicht nur relativierungsbedürftig, sondern unzutreffend. Natürlich legten Karikaturisten ihre Finger bzw. Kohlestifte in die Wunden der jeweiligen Gesellschaft, sie beteiligten sich am politischen Geschehen ihrer Zeit, aber ähnlich wie viele Literaten, Philosophen und Künstler sich immer auch mit den Regierenden arrangierten, so waren auch die Karikaturisten nie vor Intoleranz und Verblendung gefeit. So kann der Kladderadatsch in den frühen 30er Jahren gegenüber der NSDAP als durchaus kritisch eingestellt angesehen werden, doch in allzu vielen Karikaturen ist auch tumber Antisemitismus wiederzufinden. Aus den oben genannten Gründen eignet sich m. E. die Definition der Karikatur durch Grünewald für das hier vorgestellte Arbeitsvorhaben:
"Deshalb sollen ... unter »Karikatur« visuelle Aussagen verstanden werden, die pointiert durch Form und Inhalt, übertreibend, verzerrend, veranschaulichend, direkt oder indirekt Kritik an Personen und ihren Verhaltensweisen, an gesellschaftlichen Vorgängen üben. Karikatur ist damit weitgehend von der unterhaltenden Witzzeichnung geschieden, primär auf die gesellschafskritische und politische Presse- und Plakatkarikatur bezogen."


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I.3 Stilmittel und Typologie der politischen Karikatur - oder die Eigenheiten einer besonderen Geschichtsquelle

"Sehen will wie Sprechen gelernt sein. Die visuelle Quelle stellt ihre eigenen Anforderungen."
Ursula Stiff

Im vorigen Abschnitt wurde festgestellt, daß die Karikatur Stellung beziehen und eine Vielzahl von Betrachtern von der Richtigkeit dieser Stellungnahme mit ihren Mitteln überzeugen will. Dabei besteht eine Karikatur aus Zeichen, Symbolen und Figuren. Diese Zeichen müssen nun im Geschichtsunterricht dechiffriert werden, um den Schülern den Zugang zur Karikatur zu ermöglichen.
Das elementare Stilmerkmal der Karikatur ist die Verfremdung oder auch Disproportionierung. Bei der Verfremdung wird das kritisch zu hinterfragende Geschehen in eine andere, dem Betrachter jedoch bekannte Handlung transportiert. Wichtig ist, daß die Verfremdung nicht gänzlich durchgeführt wird und der Betrachter schnell von dem dargestellten Geschehen auf das angesprochene Ereignis schließen kann. Dazu ist es jedoch notwendig, daß der Betrachter mit dem Gezeigten vertraut ist. Um diese Vertrautheit zu gewährleisten, wird auf ewige "Wahrheiten" zurückgegriffen, z.B. auf den Arbeits- und Familienalltag, den bürgerlichen Bildungskanon in Kunst und Literatur, Sport, Schule usw.. Schwierig wird die Auseinandersetzung mit einer Karikatur, wenn sich z.B. der Familienalltag in der zeitlichen Differenz zwischen der Enstehung der Karikatur und dem heutigen Betrachten soweit verändert hat, daß das Dargestellte nicht mehr zum eigenen Erfahrungsschatz des Betrachters/Schülers gehört (z.B. das Tischgebet).
Der in der Karikatur gezeigte Sachverhalt ist der "substituierende Sachverhalt" oder "signifiant", welcher für den eigentlich gemeinten Sachverhalt steht, den "substituierten Sachverhalt" oder "signifié". Erst wenn der Schüler begreift, daß der gezeigte Sachverhalt nicht identisch ist mit dem gemeinten Sachverhalt, kann er sich der Bedeutung einer Karikatur annähern. Voraussetzung dafür ist wiederum, daß z.B. die Symbolik der Darstellung erfaßt und diese wiederum auf den "signifié" bezogen wird.
Dem Betrachter der Karikatur wird das Erkennen des Gemeinten vielfach durch die Bildunterschrift und die eingesetzten Stilmittel erleichtert bzw. erst möglich gemacht. Um dieses Ziel zu erreichen, wird eine Vielzahl von Stilmitteln eingesetzt, die, wie oben ausgeführt, sich zum Teil mit der Karikatur gemeinsam entwickelt haben und mit denen die Schüler jeweils in bezug auf die "aktuelle" Karikatur vertraut gemacht werden sollten. Dazu gehören:

Häufig werden Karikaturen mit ästhetischen Qualitätsmerkmalen wie Parodie, bei der dem Dargestellten Symbole "untergeschoben" werden, die für einen allgemein bekannten und anders besetzten Sachverhalt oder einen altertümlichen Sachverhalt stehen, Ironie, Satire, Witz und Spott belegt, doch die Übergänge sind in bezug auf das Medium Karikatur derart fließend, daß diese Beurteilungen sich an dieser Stelle durchaus unter den Oberbegriffen Humor oder Komik zusammenfassen lassen.

Der Karikaturist bedient sich nicht nur besonderer Stilmittel, um sein Ziel zu erreichen, es gibt zudem eine Vielfalt an strukturellen Möglichkeiten, eine Karikatur zu gestalten. Um diese Möglichkeiten in eine Ordnung zu bringen, d.h. eine Typologie aufzustellen, kann einerseits die äußerliche Darstellungsstruktur und andererseits der inhaltlichen Objektstruktur einer Karikatur berücksichtigt werden. Nach folgenden Gesichtspunkten kann die äußere Darstellungsstruktur zusammengestellt werden:


Wird jedoch der Blick von dem rein äußerlichen Aufbau einer Karikatur auf ihre inhaltliche Objektstruktur gelenkt, gelangt man zu einer abweichenden Typeneinteilung:

Eine Karikatur ist jedoch kein technisches Erzeugnis, und somit ist sie auch nicht standardisierbar. Wie alle menschlichen Kunstwerke verursacht die Karikatur bei näherer Betrachtung, auch unter Berücksichtigung der wahrscheinlichsten Absicht des Karikaturisten, Einordnungsschwierigkeiten. Entgegen diesen Schwierigkeiten kann dennoch versucht werden, auf der Basis der äußeren Darstellungsstruktur und dem Inhalt, ein Ordnungssystem für Karikaturen zu erstellen. Wolfgang Marienfeld schlägt folgendes System zur Einordnung von Karikaturen vor, welches hier um die Punkte IV. und V. ergänzt wurde:

Stilmittel und Strukturelemente wurden behandelt, doch der augenscheinlichste Bereich der Karikatur wurde bis hier hintangestellt: Der Humor. Dabei sind Humor und Komik konstituierende Elemente einer Karikatur, denn welchen Grund sollte der Betrachter haben, eine Karikatur zu betrachten, wenn diese ihn nicht erheitern würde? Doch Humor und Komik sind besonders bei politischen Karikaturen ein zweischneidiges Schwert. Wenn der politische Gegner verspottet wird, mag der Betrachter noch lachen oder schmunzeln, doch wenn z.B. tiefgreifende gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufgezeigt oder Diktatoren (z.B. als Schlächter) vorgeführt werden, dann wird im vordergründig Komischen das Tragische aufgezeigt. Bei Personenkarikaturen versucht der Karikaturist dabei zumeist, den oder die Gezeichnete in den Augen des Betrachters herabzusetzen, indem z.B. eine Premierministerin als Taschendiebin ("Maggie" Thatcher), ein Finanzminister als Gerichtsvollzieher oder ein Diktator als Schlachter gebrandmarkt werden.
Karikaturen können für einen Politiker in einer parlamentarischen Demokratie auch entgegengesetzte Wirkung haben, denn die Häufigkeit des "Karikiertwerdens" kann auch als Meßwert des Bekanntheitsgrades verstanden werden, und so mancher Politiker, der Selbstbewußtsein genug hat, mag Winston Churchill folgen, der folgende Feststellung traf:
"Politiker gewöhnen sich ebenso daran, karikiert zu werden, wie sich Aale daran gewöhnen, daß man ihnen die Haut abzieht."


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I.4 Gründe für den Einsatz von Karikaturen

Herbert Uppendahl konstatiert zum vergleichsweise geringen Einsatz von Karikaturen im Geschichtsunterricht:
"Hier wird deutlich, warum die politische Karikatur in der traditionellen Geschichtsdidaktik und mithin im Geschichtsunterricht kaum eine Rolle gespielt hat: Sie ist zu sehr »Partei«, und sie entzieht sich einfachen und allgemeinverbindlichen Formen der Interpretation. Insoweit ist es schwierig, sie für den Unterricht »in den Griff zu bekommen« und fruchtbar werden zu lassen".
Weiterhin erklärt er, daß der Umgang mit der Karikatur vom Lehrer wie vom Schüler gelernt werden müsse, die Wirkung von Karikaturen im Unterricht jedoch bei sachgemäßen Einsatz aufgrund der hohen intrinsischen Motivation so hoch sei, daß man "reichen Lohn" erwarten könne. In der Literatur wird bei den Schülern in der Auseinandersetzung mit Karikaturen diese hohe intrinsische Motivation geradezu vorausgesetzt. Die Begründungen ähneln sich durchweg und können wie folgt zusammengefaßt werden:
1. Karikaturen wirken motivierend, da die Schüler ihre Aussage z.B. nicht durch die "übliche" Textanalyse erarbeiten können, sondern Karikaturen müssen dechiffriert werden, um ihre Aussage und damit auch ihr Angriffsziel zu entdecken. Bei der Dechiffrierung wiederum werden die analytischen und gefühlsmäßigen Kompetenzen der Schüler angesprochen, weil einerseits in der Karikatur "unpassende" Dinge miteinander vereint werden (Übertreibung, Verzerrung, "Verfremdung") und andererseits der Humor und auch das Mitgefühl der Schüler angesprochen wird.
2. Der "Zwang" zur Dechiffrierung wirkt auf die Schüler zugleich aktivierend, da sie ihre Kenntnisse in die Analyse einbringen und Bezüge zwischen der (politischen) Realität und dem Gezeigten herstellen müssen. Auch die Interpretation einer Karikatur und damit auch die Diskussion innerhalb der Lerngruppe wird durch das Entschlüsseln ihrer Aussage gefördert. Karikaturen vermö gen aufgrund ihrer Eigenart Schüler zu provozieren. Somit eigenen sie sich besonders - im Vergleich zu anderen Quellengattungen - für einen kritisch hinterfragenden, schüler- und problemorientierten Geschichtsunterricht, welcher die Grundlage für entdeckendes und forschendes Lernen bildet. Das Problem der chiffrierten Karikatur steht im Mittelpunkt des Unterrichts, eine dem Schüler fern liegende extrinsische Motivation erübrigt sich.
3. "Verbalismus" und Unanschaulichkeit können durch das visuelle Medium der Karikatur vermieden werden, bzw. wie ich meine, ein wenig gedämpft werden. Doch vor welchen Problemen steht der wohlmeinende Geschichtslehrer, wenn er eine gut reproduzierte Karikatur im Schulbuch oder in anderen Handreichungen findet, und die einzige Information besteht aus dem Namen einer ihm unbekannten Zeitung oder Zeitschrift und einer Jahreszahl? Die "didaktische Intention" des Karikaturisten ist sicherlich oft, aber bestimmt nicht immer, durch eine Bildanalyse zu ermitteln.
Aber welche Geschichtsquelle ist nicht "zu sehr Partei"? Jeder Lehrer ist erfreut, wenn er nach langem Suchen eine passende Quelle zu seinem Thema findet, die ihre Aussage klar und deutlich formuliert. Selbstverständlich bedarf die Karikatur eines besonderen Zugangs und besonderer Methoden ihrer Interpretation. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird auch darauf eingegangen werden, aber Uppendahl erwähnt hier mit keinem Wort die Schwierigkeiten bei der Beschaffung des Quellenmaterials, erst 1986 weist er auf die Möglichkeit hin, Sammlungen auszuwerten. Quellensammlungen gibt es zu nahezu jedem Thema, aber fachdidaktisch aufbereitete und in ihrer Druck- bzw. Wiedergabequalität ausreichende Karikaturensammlungen sind praktisch nicht auffindbar.
Auch Schulbücher bereiten dem karikaturbegeisterten Lehrer wenig Freude. Knapp 19 Jahre sind vergangen seit M. Faust beklagte:
"Diese Situation in der Fachdidaktik findet ihren Niederschlag in den gängigen Schulbücher, in denen sich bis auf wenige Ausnahmen nur selten zeitgenössische Karikaturen finden. Wo dies einmal der Fall ist, werden die Karikaturen meist durch eine Unterzeile erklärt, was im Ergebnis einem Nichtabdruck gleichkommt, da sie dann für eine selbständige Erarbeitung durch die Schüler und damit für einen sinnvollen Einsatz im Unterricht überhaupt unbrauchbar sind. Es ist sehr zu hoffen, daß die Schulbuchautoren und -verlage zumindest diese Unsitte bei Neuauflagen endlich abstellen."
Hinzuzufügen ist, daß Karikaturen in Schulbüchern vielfach in einem viel zu kleinen Bildformat wiedergegeben, daß farbige Karikaturen einfarbig oder in veränderter Farbgebung reproduziert werden und daß Datierungen, Zeitschriften und Herkunftsländer sofort den beigefügten Erläuterungen zu entnehmen sind. Trotz der zu kleinformatigen Reproduktion der Karikaturen hebt sich das Geschichtsbuch von P. Hüttenberger, besonders wegen der Verwendung bislang in Schulbü chern kaum eingesetzter Karikaturen, positiv von anderen Schulbüchern ab. Desgleichen berücksichtigt das Geschichtsbuch von E. Hinrichs u.a. den Hinweis von Grünewald, mit der Beschäftigung mit Karikaturen bereits in der Sekundarstufe I zu beginnen. Dieses Schulbuch beinhaltet immerhin eine "Werkzeugkiste" zu dem Thema "Wir interpretieren Karikaturen".
Wenn das Sehen aber wie das Sprechen gelernt werden soll, müssen Voraussetzungen erfüllt werden, nämlich das selbständige Erarbeiten von Erkenntnissen und die Entscheidung des Lehrers für das entdeckende Lernen .
Der Einsatz des Mediums Karikatur kann Alltagserfahrung und Motivation der Schüler in besonderer Form berücksichtigen. Die Schüler sehen sich bei der Lektüre von Tageszeitungen und Zeitschriften immer wieder mit Karikaturen konfrontiert, aber häufig fehlt ihnen - nach eigener Auskunft - die Kompetenz, diese Karikaturen zu deuten und einzuordnen. Uppendahl führt dazu aus:
"Die Karikatur ist in der Tat zu einem kaum mehr wegzudenkenden Bestandteil der modernen Massenmedien geworden. Ihre Behandlung im Unterricht der Sekundarstufen ergibt sich mithin zwingend aus ihrer Bedeutung für die jeweiligen individuellen Sozialisationsprozesse einerseits und aus ihrer realen Bedeutung in der Alltagswelt und für die Steuerung von Alltagswissen andererseits."


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I.5 Didaktische und methodische Überlegungen zum Einsatz politischer Karikaturen im Unterricht

Karikaturen - ob nun zeitgenössisch oder aus der Reformationszeit - sind historische Quellen. Die Eigenart dieser Quellen liegt nun darin begründet, daß sie gesellschaftliche und politische "Schwingungen" der Menschen in ihrer Zeit m. E. den SchülerInnen näher bringen als beispielsweise Tagebuchaufzeichnungen einer bekannten oder unbekannten Person. Gerade die überspannte, übertriebene und zugespitzte Form der Darstellung ermöglicht es, sich der Position des Künstlers anzunähern und vergleichsweise genau zu bestimmen.
Wie oben bemerkt, beschrieb bereits Uppendahl die hohe intrinsische Wirkung von Karikaturen im Geschichtsunterricht. Die Motivation der Schüler, sich der in einer Karikatur dargestellten Sache anzunähern, liegt nicht zuletzt darin begründet, daß künstlerische Darstellungen von Handlungen und Ereignissen, wie z.B. Comics und Zeichentrickserien, inzwischen einen festen Bestandteil ihrer Lebenswelt bilden. Optische Darstellungen sind - nicht nur für Schüler - jederzeit verfügbar, Schüler sind mit dem Medium "graphische Darstellung" also durchaus vertraut und in den 90er Jahren richten sich Comics und Zeichentrickserien nicht nur mehr an nur (Klein-) Kinder. Zeichentrickserien wie "The Simpsons" bedürfen aufgrund ihres hohen zeichnerischen Abstraktionsgrades vielfach großen Hintergrundwissens, z.B. zur gesellschaftlichen und innenpolitischen Situation in den USA, um alle Sketche und Anspielungen verstehen zu können. Ähnlich wie (viele) Comics oder Mangas bedürfen auch die Karikaturen der Entschlüsselung, so müssen sie erst decodiert werden, um Heiterkeit zu erwecken. Dieses Entschlüsseln eignet sich für einen problemorientierten Unterricht und das selbständige Lernen. Doch Vorsicht ist geboten: Weder sind Karikaturen motivierende "Selbstläufer", noch kann der gesamte Unterricht auf ihnen aufgebaut werden. Der Spannungsbogen einer historischen Karikatur trägt bei einer illustrativen Verwendung kaum so lange wie die 25 Minuten eines Zeichentrickfilms! Der Einsatz von Karikaturen im Unterricht bereitet weitere Schwierigkeiten. Da in der Schule nicht unbegrenzt Zeit für die Auseinandersetzung mit einer oder mehrerer Karikaturen zur Verfügung steht, muß vor dem Einsatz dieser Quellengattung präzis der Arbeitsaufwand der Schüler für die Decodierung der betreffenden Karikatur berücksichtigt werden. Karikaturen werden im Unterricht als Geschichtsquellen eingesetzt, jedoch sind die Analyse und Interpretation dieser Quellenart für den ungeübten Schüler weitaus schwieriger als z.B. die Arbeit mit einer Textquelle. Diese Schwierigkeiten liegen darin begründet, daß die Schüler die Karikatur im Vergleich zu einer Textquelle in Hinblick auf die verwendeten Symbole usw. zusätzlich entschlüsseln müssen. Setzt eine Karikatur Kenntnisse voraus, über die die Schüler im Jahre 1999 nicht mehr verfügen, weil diese Kenntnisse zeitgebunden sind (z.B. die römische Götterwelt oder "bekannte" Affären eines Politikers), dann muß dieses Wissen entweder zusätzlich erarbeitet oder vermittelt werden. Wenn dies innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit nicht leistbar ist, sollte sich der für eine andere Karikatur entscheiden, oder auf den Einsatz von Karikaturen muß ganz verzichtet werden. Abgesehen von dem Wissen, welches für die Entschlüsselung notwendig ist, sollte der Lehrer abschätzen können, über welches Abstraktionsvermögen und über welche analytischen und kombinatorischen Fähigkeiten die SchülerInnen verfügen. Jedes Bild bzw. jede Karikatur erlangt für den Betrachter erst dann Bedeutung, wenn er die Bildsprache auch entschlüsseln kann. Dabei kann nach Piaget von abstrakten Denkoperationen erst in der Phase der formalen Operationen angenommen werden. Karikaturen sollten daher erst in der Sekundarstufe I im Unterricht erscheinen und zudem einen einfachen Zugang zur Entschlüsselung bieten (z.B. Karikaturen von Herrschern - N. Bonaparte wird hier immer wieder hervorgehoben -, Päpsten, Moden usw.). Aber auch "historische Querschnitte" können gegen Ende der Sekundarstufe I mit Hilfe von Karikaturen erarbeitet werden (z.B. gleichartige und unterschiedliche Entwicklung der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie in der Karikatur usw.). Karikaturen können zudem in der Sekundarstufe II dazu genutzt werden, themengebunden größere Zeiträume zu behandeln ("historische Längsschnitte"), z.B. die Stellung der Frau in der Gesellschaft, Umgang mit Fremden usw..
Die aufgezeigten Vorteile des Einsatzes von Karikaturen im Unterricht können sich somit bei unzulänglicher Einschätzung der Lerngruppe durch den Unterrichtenden sehr rasch in schwerwiegende Nachteile verwandeln, die den gesamten Unterricht zu "kippen" vermögen! Andererseits eignet sich das Medium Karikatur ganz ausgezeichnet, um an eben diesen Schwierigkeiten gemeinsam mit den Schülern die Methoden zu erarbeiten, die zum Verstehen nicht nur von Karikaturen notwendig sind, wie z.B. das Beschreiben, Analysieren, Vergleichen, Deuten und Urteilen.
Schwierigkeiten können jedoch vermieden oder zumindest weitgehend ausgeschlossen werden, wenn der betreffenden Karikatur (oder den Karikaturen) vor dem Einsatz im Unterricht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zusätzlich zu dem oben aufgeführten sind nach W. Marienfeld folgende Gesichtspunkte von Bedeutung:

Die von W. Marienfeld angeführten "Problembereiche" Vereinfachung und Parteilichkeit erscheinen vielleicht auf den ersten Blick als "Problem", denn erstens bezieht jede gute Karikatur Stellung und ist somit auch parteiisch und zweitens: Warum sollte der Einsatz einer "parteiischen" oder "vereinfachenden" Karikatur vermieden werden? Vereinfachung und Parteilichkeit sind doch die Vorteile einer Karikatur, die die Schüler anregen und motivieren. Und eben die Fähigkeit der Karikatur zu manipulieren rechtfertigt die kritische Auseinandersetzung mit diesem Medium des politischen Meinungskampfes im Unterricht. Hohn gegenüber dem politischen Gegner oder "manipulierte" Wahrheit verdeutlichten die Position des Zeichners! Und historische "Wahrheit" ist sicherlich kein objektiver Begriff. Wenn überhaupt, können sich Schüler, Lehrer und Historiker nur mit unendlich viel Arbeit an die "Wahrheit" annähern. Dabei versteht es sich von selbst, daß die (Kern-) Aussage einer Karikatur mit weiteren Informationen, z.B. Textquellen, Tabellen, Memoiren usw. hinterfragt werden muß und ethische und demokratische Grundsätze zum Beispiel durch einen kritiklosen Einsatz einer antisemitischen Karikatur nicht verletzt werden dürfen! In diesem Zusammenhang stellt sich desgleichen die Frage nach der Manipulation der Lerngruppe durch die Auswahl der Karikaturen durch den Unterrichtenden. Dem kann entgegnet werden, daß das Besondere des Mediums Karikatur die überspitzte bzw. polemische Aussage ist, die ihrerseits geradezu zu Widerspruch herausfordert. Vielfach wird auch vorgeschlagen, die Schüler an der Auswahl der Karikaturen für den Unterricht zu beteiligen. Abgesehen davon, daß dieses Vorgehen bereits große Analyse- und Interpretationsfähigkeiten und ein tiefgreifendes Wissen um das zu behandelnde Thema von den Schülern voraussetzt, müssen zudem an Ort und Stelle geeignete Bibliotheken zur Verfügung stehen, die ausreichend Material für die Auswahl der Karikaturen zur Verfügung stellen. Schüler mit Karikaturen, aus einer ihnen doch zumeist fremden Zeit zu konfrontieren und die Schüler zur Auswahl zu ermutigen, scheint m. E. ein fragwürdiger Weg zu sein. Umgekehrt kann sich dieser Weg durchaus anbieten, wenn im Unterricht auch aktuelle Ereignisse thematisiert werden. In diesem Zusammenhang böte sich eine Karikaturensammlung z.B. in Form einer Wandtafel an. Doch wäre dieser Weg bei dem hier vorgestellten Thema lohnend? Ist die gesellschaftliche und politische Situation in der Bundesrepublik mit der Weimars vergleichbar? Da dies jedoch nicht der Fall ist, kann an dieser Stelle so auch nicht gearbeitet werden.
Ein grundlegender Fehler unterläuft bei dem Einsatz von Karikaturen im Unterricht immer wieder: Schüler stehen oft vor dem Problem, daß von ihnen erwartet wird, den didaktischen Intentionen des Lehrenden zu folgen, welche für sie im Widerspruch zu den "didaktischen Intentionen" der Karikatur bzw. des Künstlers stehen. H. Uppendahl spricht in diesem Zusammenhang von "der Gefahr einer doppelten Didaxis" und empfiehlt dem Lehrer "...seine eigenen didaktischen Intentionen auf die des Karikaturisten abzustimmen."
Aber nicht nur "die Gefahr einer doppelten Didaxis" sollte vom Unterrichtenden berücksichtigt werden; an dieser Stelle sollen die prinzipiellen Probleme des Einsatzes von Karikaturen in Form einer Checkliste für die Unterrichtsplanung zusammengefaßt werden:
=> Ist es tatsächlich notwendig, an dieser Stelle des Unterrichts eine Karikatur einzusetzen oder kann der gleiche Lernerfolg z.B. auch durch eine Textquelle erreicht werden, deren Analyse und Interpretation den Schülern leichter fällt? Damit steht auch die Frage im Raum, ob eine Karikatur tatsächlich den Unterricht und den Lernerfolg der Schüler voran- bringt.
=> Inwieweit können die Schüler mit ihren Kenntnissen und (Analyse-) Fähigkeiten mit der Karikatur arbeiten?
=> Gibt der Fundus des Unterrichtenden eine Karikatur her, die Thema und Aufgabenstellung gerecht wird (z.B. Wiedergabequalität, Inhalt und Stil)?
=> Kann eine zeitraubende und demotivierende Fehlinterpretation durch die Lerngruppe bei der ausgewählten Karikatur ausgeschlossen werden?

Es ist deutlich geworden, daß Karikaturen kein getreues Abbild der historischen Realität sind, sondern "Verbildlichungen" der subjektiven Wahrnehmung und Sicht des Karikaturisten. Hierdurch wird eine Ergänzung der Checkliste um die Voraussetzungen für eine Auseinandersetzung mit politischen Karikaturen durch eine Lerngruppe notwendig.
=> Verfügen die Schüler über ein "Wissensgerüst", welches ihnen einen ersten Zugang zu der Karikatur ermöglicht?
=> Verfügen die Schüler über die Kompetenzen und die notwendige Fähigkeit abstrakt zu denken, um Symbole deuten zu können?
=> Sind den Schülern der betreffenden Lerngruppe die Symbole und deren Bedeutung bekannt?
=> Inwieweit können die Schüler das Dargestellte auf das Gemeinte übertragen - Transfer?
=> Können die Schüler das dargestellte Geschehen eindeutig identifizieren, um auf diesem Wege das eigentlich angesprochene Geschehen entdecken zu können?

Vor- und Nachteile der Beschäftigung mit Karikaturen im Unterricht sind behandelt worden, wobei deutlich geworden ist, daß die Vorteile der kritischen Auseinandersetzung mit Karikaturen bei entsprechender Vorbereitung und vorhergehender Analyse des Materials überwiegen. Es dürfte jedoch auch deutlich geworden sein, daß im Umgang mit Karikaturen unerfahrene Schüler einer Heranführung an dieses Medium bedürfen. Das angestrebte Ziel der Analyse und Interpretation von Karikaturen im Unterricht oder auch der Entschlüsselung mit dem geeigneten Instrumentarium ist dabei immer die Auseinandersetzung mit den politischen Ziel- und Wertvorstellungen des Karikaturisten im Vergleich zu der jeweiligen uns bekannten politischen Realität. Um die Auseinandersetzung mit der Absicht der Karikatur bzw. des Karikaturisten in geregelte Bahnen zu lenken, ist es notwendig, eine Bildbetrachtung bzw. eine Karikaturanalyse durchzuführen. Dazu bedarf es aber einer dem Medium angemessenen Vorgehensweise, die wiederum vermittelt werden muß. Schwerpunkt dieser Analyse wird immer die Frage nach den eingesetzten künstlerischen Mitteln und den Absichten des Künstlers sein. Grünewald sieht bereits in der Grundschule die Möglichkeit, Schülern die Aussageabsicht von Zeichnungen nahe zu bringen. Aufbauend auf diese Vorkenntnisse können dann in der Sekundarstufen I und II Klischees, Typisierungen, Zeichenrepertoire, Charakterisierungen, Funktionen, Rückschlüsse auf die Absicht usw. erarbeitet werden. Im Gegensatz zu den Ideen Grünewalds kann bedauerlicherweise zur Zeit kaum davon ausgegangen werden, daß Schüler im Umgang mit Karikaturen versiert sind - auch nicht in der Sekundarstufe II. Zumeist werden Karikaturen lediglich zur Illustrierung einer historischen Situation oder gar zur Verifizierung der Unterrichtsergebnisse eingesetzt. Aus diesem Grunde werden an dieser Stelle Schemata zur Analyse von Karikaturen vorgestellt, denn der schwierige Weg der Karikaturinterpretation, der immer auch die Dechiffrierung des Materials zu berücksichtigen hat, bedarf bei Lerngruppen - auch der Sekundarstufe II - einer Strukturierung!
Herbert Uppendahl veröffentlichte 1978 ein sehr differenziertes Modell zur Karikaturinterpretation:

1986 folgte gleichfalls von Uppendahl ein vereinfachtes Modell zur Analyse von Karikaturen im Unterricht, wobei Uppendahl darauf hinwies, daß es sich dabei nicht um einen "Universalschlüssel" handelt, sondern der Erleichterung des Unterrichts dienen soll und die Reihenfolge und Betonung der Leitfragen von der didaktischen Intention des Lehrers abhängig seien.:
M. Faust stellte 1980 folgende Analyseschritte zur Strukturierung des "Denkprozesses" bei der Auseinandersetzung mit Karikaturen heraus:


W. Loch und K. Görres stellten 1985 fest:
"Die Geschichtsforschung analysiert Karikaturen nach dem Verfahren exakter Quellenarbeit, wobei sie etwa die folgenden Leitfragen zugrunde gelegt: - Wann und wo entstand die Karikatur?
- In welchem Medium wurde sie veröffentlicht?
- Was ist über den Künstler bekannt?
- An welchen Adressaten wendet sie sich?
- Auf welches Ereignis, welchen Sachverhalt, welche Position bezieht sie sich?
- Welchen Standpunkt nimmt der Künstler ein?" ... Für die unterrichtliche Arbeit mit Karikaturen wird der folgende Ablauf vorgeschlagen:
- " ... Betrachten und Beschreiben der bildlichen Darstellung bis in die Details,
- Entschlüsseln der Bildsprache und Übertragen der Aussage auf die jeweilige historische Situation,
- Erkennen und Darlegen der Intentionen des Künstlers."

W. Marienfeld schlug 1990 folgende Analyseschritte für Karikaturen vor:

Auffallend im Vergleich von Uppendahl und Marienfeld ist dabei die Reduzierung auf einige wenige Leitfragen bei Marienfeld. Parallelen zu der Vorgehensweise Marienfelds, aber auch Fausts, gibt es bei der kunsthistorischen Vorgehensweise der Ikonographie ("Bildbeschreibung") und Ikonologie. Hier werden drei Ebenen der Wahrnehmung eines Bildes unterschieden, welche aufeinander aufbauen sollten:
1. Die (vor-ikonographische) Beschreibung mit Hilfe der Mittel der eigenen bekannten Welt.
2. Die ikonographische Analyse, z.B. mit Unterstützung des irgendwann zuvor erworbenen Vorwissens (Religion, Politik, Geschichte, Literatur usw.).
3. Die ikonologische Interpretation: Hier wird das Werk durch die "Zusammenschau" aller Vorkenntnisse und zusätzlich ermittelter Informationen abschließend gedeutet.

Eine gezielte Auswahl nach eigenen didaktischen und methodischen Prioritäten aus den zur Verfü gung stehenden Schemata erscheint am sinnvollsten, wobei ein "Leerschema", welches von den SchülerInnen im Verlauf einer Sequenz erarbeitet und ergänzt wird, gerade für solche Lerngruppen in der Oberstufe sinnvoll erscheint, die sich zuvor im Unterricht nicht mit Karikaturen auseinandergesetzt haben, hingegen aber bereits Erfahrung z.B. mit Quellentexten haben. Im Verlauf der Einstiegsphase könnte am Beispiel einer leicht zugänglichen Karikatur das Grundschema erarbeitet und im weiteren Verlauf der Sequenz z.B. um die Stilmittel ergänzt werden.

Schema für die Analyse und Interpretation einer Karikatur

Analyse und Interpretation von Karikaturen wurden bis hier behandelt, doch in welchen methodischen Zusammenhängen lohnt sich der Einsatz von Karikaturen?
Drei Möglichkeiten sind, differenziert nach Unterrichtsphasen, zugedachten Aufgaben der Karikatur(en) im Unterricht und inhaltlichen sowie formalen Voraussetzungen, denkbar:

Gleich, ob es sich um die Einstiegs-, Haupt- oder Schlußphase des Unterrichts handelt, im Anschluß an die erste Konfrontation der Lerngruppe mit einer Karikatur (oder auch anderen Abbildungen) sollte ausreichend Zeit für die Wirkung der Karikatur auf die Betrachter eingeplant werden. Wenn die Karikatur entsprechend den analytischen Fähigkeiten und dem Kenntnisstand der Lerngruppe ausgewählt wurde, kann mit ersten Fragen und Kommentaren der Lerngruppe gerechnet werden. Es ist dabei wahrscheinlich, daß an dieser Stelle u.a. zu den künstlerischen Mitteln Stellung genommen wird. Inwieweit der Lehrer weitergehende Leitfragen in das Gespräch einbringen muß oder ob diese Fragen und Antworten aus der Gruppe erfolgen, ist wiederum abhängig von der Vorbereitung und Auswahl der Karikatur durch den Lehrer. Von den Schülern wird bei dem Einsatz von Karikaturen sehr viel verlangt; sie müssen konzentriert betrachten, einordnen, vergleichen, begründen, interpretieren und bewerten. Diesen Operationen liegt zugrunde, daß die chiffrierte Aussage der Karikatur in ihrem historischen Zusammenhang und nur gemeinsam mit den Absichten des Künstlers gesehen werden kann.
Fragen, Stellungnahmen und Hypothesen der SchülerInnen sollten bei diesem Vorgehen wieder in die Lerngruppe zurückzugeben und z.B. in Gruppenarbeit weiter erarbeit werden. Dabei kann versucht werden, den Unterricht weitgehend an die Schüler abzugeben und bei einer erfahrenen Lerngruppe die Erarbeitung den SchülerInnen zu überlassen. Ob die Leitfragen vom Lehrer in den Unterricht eingebracht werden oder aus der Lerngruppe kommen, sinnvoll wäre es sicher, den Prozeß der Erarbeitung an der Tafel bzw. auf einer Folie zu sichern. Bei Abdunkelung bietet sich der Tageslichtschreiber an. So soll einerseits eine Vergleichsmöglichkeit der Aussage der Karikatur, zum Beispiel durch Karikaturen aus anderen politischen Lagern, zur Verfügung stehen und andererseits der Weg der Interpretation (z.B. durch Leitfragen) für die weitere Beschäftigung mit Karikaturen gesichert werden. Abschließend soll noch die Möglichkeit einer weitergehenden Auseinandersetzung mit Karikaturen angesprochen werden. In der Literatur wird häufig auf die Möglichkeit hingewiesen, daß die SchülerInnen, ausgehend von der Beschäftigung mit Karikaturen, dazu angeregt werden können, selbst Karikaturen anzufertigen und somit von der theoretischen zur praktischen Auseinandersetzung mit dem Themenbereich Karikaturen gelangen. Kopf und Hand sollen auf diesem Weg verbunden werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß die Lerngruppe dazu bereit ist, dieser Weg mit den Zielen der Reihe bzw. Sequenz vereinbar ist und ausreichend Zeit zur Verfügung steht.


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I.6 Zum Einsatz von Dias

Wie in dem Kapitel 1.2 Versuch einer Begriffsbestimmung der politischen Karikatur geschildert, kommt einer Karikatur die Bedeutung eines oder mehrerer sprachlichen Zeichens zu. Der Zeichner bzw. Graphiker deutet mit seinem Werk seine Welt ebenso, wie es der Literat tut. Die Bedeutung der Bildbetrachtung bzw. Bildanalyse liegt nun darin begründet, das Gesehene, also die Karikatur, in Sprache zu transformieren. Dazu ist es notwendig, daß jedes Mitglied einer Lerngruppe in der Lage versetzt wird, die zu untersuchende Karikatur einwandfrei zu sehen. Voraussetzung dafür ist wiederum, daß die eingesetzte Technik (Diaprojektor, Vervielfältigungsgerät usw.) und das zu zeigende Medium (Arbeitsblatt, Dia, Folie) in gutem Zustand sind. Von besonderer Bedeutung ist zudem, daß die eingesetzte Technik keinen verändernden oder verfälschenden Einfluß auf die Bildwiedergabe hat. Wenn die technischen Möglichkeiten es nicht anders ermöglichen, muß auf Unterschiede hingewiesen werden. So wird in dem Aufsatz von H. Uppendahl eine Karikatur aus dem Roten Pfeffer vom Juli 1932 in Schwarz-Weiß-Druck gezeigt, die im Original farbige Gestaltungselemente aufweist (großflächiges Rot). Uppendahl weist jedoch nicht auf diese Veränderung hin.
Die im Rahmen dieser Sequenz verwendeten Dias wurden nahezu vollständig selbst erstellt und sind mediendidaktisch dem großen Bereich der zweidimensionalen und statischen Bilder zuzuordnen. In der Geschichtsdidaktik gelten auch andere Formen von reproduzierbaren Abbildungen, wie z.B. Statistiken, Landkarten, Diagramme, Luftbildaufnahmen, Photographien von Landschaften, Gebäuden, Kunstwerken usw. als "Bild". Ein Bildbegriff, der lediglich von der darstellenden Kunst ausgeht, greift im Fach Geschichte aber zu kurz. Vielmehr deckt der Begriff "Abbildungen" diese Bereiche ab.
Der Entscheidung für die Arbeit mit Dias lagen mehrere Beweggründe zugrunde. Abgesehen davon, daß die Photographie aufgrund der restriktiven Handhabe von Vervielfältigung- und Ausleihmöglichkeiten von Seiten der Bibliotheken die einzige Möglichkeit war, Originalquellen wie z.B. den Kladderadatsch und Karikatursammlungen zu sichern und auszuwerten, sprechen weitere Vorteile für den Einsatz von Dias:
- die für einen Kursraum ausreichende Größe und Variierbarkeit des Bildes, die es bei entsprechender Qualität der Aufnahme erlaubt, auch Einzelheiten sichtbar zu machen, - die Aufmerksamkeit der Klasse bzw. der Kurses kann auf einen Gegenstand zentriert werden, im Gegensatz zur Arbeit z.B. mit Arbeitsblättern,
- die Konzentration der Schü ler wird durch die Leuchtkraft des Bildes verstärkt, wobei die Intensität der Leucht- und Bildqualität wiederum in Abhängigkeit von der technischen Qualität der eingesetzten Projektoren und von den Verdunkelungsmöglichkeiten zu sehen ist.
Zudem eignet sich der Einsatz von Dias besonders für die Betrachtung von statischen zweidimensionalen Abbildungen, hier Karikaturen. Die Schüler werden so zum konzentrierten "aufschließenden Sehen" ermuntert. In Abhängigkeit von der technischen Wiedergabequalität und Leuchtkraft des Dias wird zudem die Erinnerungsfä higkeit der SchülerInnen zu sehen sein. Die Leuchtkraft des Dias korrespondiert m. E. wiederum damit, daß eine Karikatur nicht nur den Verstand, sondern auch das Gefühl anregt. Somit kann zumindest erwartet werden, daß in dem hier skizzierten Einsatz Karikaturen und Interpretationsergebnisse deutlicher in Erinnerung bleiben, als z.B. bei der Erarbeitung des gleichen Sachverhaltes mit Hilfe von Quellentexten.
Zwar ist der Aufwand, der mit technischen Gerät bei der Erstellung und Wiedergabe von Dias betrieben werden muß, hoch, da jedoch im Rahmen dieser Reihe dieser Aufwand nicht nur für den Einsatz eines Dias betrieben wird und die Verwendung von Dias die oben genannten Vorteile verspricht, sollte der technische Apparat (Herstellung und Visualisierung) zu rechtfertigen sein.
Ein weiterer auf keinen Fall zu unterschätzender Nachteil der Arbeit mit Dias bzw. mit Diaprojektoren und entsprechend ausgerüsteten Tageslichtschreibern ist der bei diesen Medien inhärent vorhandene Ansatz des Frontalunterrichts. Der bei dieser Vorgehensweise einfach nicht zu vermeiden ist.
Mehrere Gründe waren für die selbständige Herstellung der Dias maßgeblich. Nicht nur, daß die in öffentlichen Ausleihstellen verfügbaren und zum Thema passenden Diaserien in einem recht schlechten Zustand waren, auch hätte sich bei einer auf diese Serien konzentrierten Verwendung von Dias der Unterricht am knappen Material der Serien orientiert. Die Konzeption dieser zur Verfügung stehenden älteren Diaserien wirft zudem weitere Schwierigkeiten auf. Die Diareihen und Begleittexte, welche im Falle der hier zur Verfügung stehenden Reihen lediglich fachwissenschaftlich orientiert sind, verzichten auf eine eingehende Beschreibung, Interpretation, Einordnung und Bewertung des Bildmaterials. Sicherlich ungewollt wird so dem illustrativen Einsatz der Karikaturen Vorschub geleistet - ähnlich wie in vielen Schulbüchern. Eine Arbeitserleichterung des Lehrers, der problemorientierten Unterricht durchführen möchte, wird durch diese Reihen nicht gewährleistet. Trotz des Aufwandes für Herstellung und Vertrieb solcher Diareihen bleiben diese auf der reinen "Materialebene" stehen und sind im Falle der vorliegenden Reihen selbst als "Quellensammlungen" wenig zu gebrauchen, da lediglich das Entstehungsjahr und der Name des Künstlers genannt werden. Informationen zu dem Erscheinungsort, dem Trägermedium, der Auflage usw. werden in den Begleitheften nicht gegeben.
Um einerseits die Schwierigkeiten mit dem veralteten Material und andererseits die Probleme der Verifizierbarkeit der Abbildungen bei den Serien zu vermeiden, wurden Dias von Karikaturen angefertigt.
Dias sind heute bei dem Einsatz und der Wiedergabe von Bildmaterial und besonders von Karikaturen im Unterricht sicherlich nicht die einzige realisierbare Möglichkeit. Herbert Uppendahl empfahl bereits 1978 folgende (technische) Medien: - Das Schulbuch, - das Episkop, - das Epidiaskop, - den Tageslichtprojektor und den Arbeitsbogen. Einschränkend erklärte er jedoch, daß den Medien dabei der Vorzug gegeben werden solle, die die Vorlage am besten wiedergeben, die technisch überhaupt einsetzbar sind und die der didaktischen Intention des Lehrers entsprächen. Heute ließe sich diese Liste z.B. noch durch Farbfolien oder farbige Arbeitsblätter (Farbkopierer und Farbdrucker) und den Einsatz z.B. von eingescanntem Material im Bereich der EDV ergänzen.


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I.7 Das Ende der Weimarer Republik

Da ich Karikaturen in der beschriebenen Weise und didaktischen Kontext zur Darstellung der Gründe des Scheiterns der Weimarer Republik einzusetzen beabsichtige, schalte ich nunmehr das folgende Kapitel dazwischen, welches sich sachlich mit diesem Thema befaßt.
Wenige Jahre hatte die Republik, um zur Ruhe zu kommen. Es sollte sich aber zeigen, daß die "goldenen zwanziger Jahre" nicht ausreichten, um Deutschland in Hinblick auf die kommenden weitere Gefahren stabilisieren zu können. Die Begriffe "Schwarzer Freitag" und "Schwarzer Dienstag" (24.10.1929 u. 29.10.1929) stehen nicht nur synonym für Kursstürze ins Bodenlose, Panikverkäufe und die Halbierung des Dow-Jones-Indexes in den Vereinigten Staaten, die gesamte Weltwirtschaft wurde bis ins Mark getroffen. Überall reagierten die völlig überhitzten Märkte auf Überproduktion, nicht abgesicherte Kredite, einen Rückgang der Preise für Agrarprodukte und einen Rückgang der Nachfrage durch die Konsumenten, die vielfach innerhalb weniger Jahre den durch den Krieg eingeschränkten Konsum nachgeholt hatten. Der Wall Street Crash 1929 war somit keineswegs der Ausgangspunkt einer Krise, sondern zeigte lediglich am Beispiel der Nr. 1 der Industrienationen, wie es um die wirtschaftliche Lage der westlichen Produzenten und deren Rohstofflieferanten bestellt war. Die Krise konnte nun besonders an Wucht gewinnen, da die Fabriken in den USA weniger Rohstoffe benötigten, der amerikanische Binnenmarkt immer weiter abgeschottet wurde und mit zunehmender Verschärfung der Lage auch Kredite aus anderen Ländern abgezogen wurden, um mit diesem Kapital die US Banken zu stabilisieren. Damit standen sie Schuldnerländer der USA vor der Situation, daß sie aufgrund des Kapitalmangels kaum Waren produzieren konnten. Wenn sie Produkte in die USA exportieren wollten, scheiterte dies vielfach an den US-Zöllen. Da es zu keiner internationalen Zusammenarbeit zur Lösung der wirtschaftlichen Lage kam, versuchte jede Nation die Lage allein zu meistern. Im faschistischen Italien wurde das korporative Wirtschaftssystem weiter ausgebaut, und man "exportierte" wie schon vor dem Kriege Arbeitskräfte. In Frankreich kam 1936 die Volksfront an die Regierung, nachdem zuvor faschistische Gruppen, wie die Action Francaise, das Land terrorisiert hatten und sich kein Kabinett seit Ausbruch der Krise lange an der Regierung halten konnte. In Spanien putschten 1936 die Generäle und stürzten das Land in einen Bürgerkrieg, und auch in Portugal wurde versucht, der Krise mit einem autoritären System zu begegnen. In Großbritannien ging die Wirtschaftskrise gleichermaßen mit harten innenpolitischen Auseinandersetzungen einher, doch weder die wenigen britischen Faschisten noch die Kommunisten konnten die Lage zu ihren Gunsten nutzen und daraus profitieren. Wie sah die Lage jedoch im Deutschen Reich aus, welches von dem Abzug des amerikanischen Kapitals besonders betroffen war?
Die Reichstagswahlen vom 20.5.1928 waren für die demokratischen Parteien zwar überaus erfolgreich und der Sozialdemokrat Hermann Müller konnte seine Regierung scheinbar auf eine "Große Koalition" stützen, doch war deren Fundament von Anbeginn an so brüchig, daß die Risse schon bei den Auseinandersetzungen um die Ratifizierung des Young-Plans, der von den nationalistischen Gruppierungen (DNVP - Hugenberg, Stahlhelm u. NSDAP arbeiteten im "Reichsausschuß für das deutsche Volksbegehren" gegen den Young-Plan zusammen) auf heftigste angegriffen wurde, und um die maritime Aufrüstung (Panzerkreuzer A) offen zu Tage traten. Die widersprüchlichen Positionen der Parteien in der Koalition (besonders in der Wirtschafts-, Sozial- und der Finanzpolitik) entzündeten sich an den Leistungen der Arbeitslosenversicherung (gegr. 1927), welche nach Ansicht der Sozialdemokratie ausgebaut werden sollten. Nachdem die ersten Ausläufer der Krise das Deutsche Reich erfaßt hatten, zogen US Banken ihre kurzfristigen Kredite aus Deutschland ab, und innerhalb eines Jahres war die Zahl der Erwerbslosen um eine Million angestiegen. Nun sollten die Beiträge der Arbeitslosenversicherung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber erhöht werden. Die arbeitgebernahe Deutsche Volkspartei lehnte ihrerseits die Erhöhungen ab, und die SPD verweigerte unter Berücksichtigung der Gewerkschaften einen vorläufigen Kompromiß zugunsten der Arbeitgeber. Da dem Reichskanzler Müller (SPD) die notwendige Unterstützung im Parlament ohne die DVP fehlte, trat die Regierung am 27.3.1930 zurück, und nur drei Tage später folgte der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning und stellte am 30.3.1930 seine Regierungsmannschaft vor, in der lediglich die drei sozialdemokratischen Minister ausgetauscht worden waren. Ohne die Beteiligung der SPD an der Regierung fehlte Brüning jede Aussicht auf eine Mehrheit im Parlament, denn der extrem nationalistische Flügel der DNVP um Hugenberg lehnte Brüning ab. Unterstützung erhielt der konservative Zentrumspolitiker von ganz anderer Seite. Reichspräsident Hindenburg stellte sich von Beginn an hinter den neuen Kanzler und stützte diesen mit der ganzen Macht seines Amtes (Art. 48 - Notverordnung u. Art. 25 - Reichstagsauflösung). Brüning war der Kandidat Hindenburgs, und Reichspräsident Hindenburg wiederum traf seine Entscheidung für Brüning unter der Einflußnahme des Generals Kurt v. Schleicher, der seinerseits zu Hindenburgs "Hofcamarilla" zählte. Von vornherein sollte sich das Kabinett Brüning zudem weder an den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag orientieren, noch sollten Gespräche mit den Parteien geführt werden. Ziel war eine "antiparlamentarische" und "antimarxistische" Regierung. Brüning hatte mit seinen Bemühungen um die Stabilisierung der Finanzpolitik kaum mehr Glück als Müller. Auch er scheiterte im Parlament mit seinem Versuch, die inzwischen dringend notwendige Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auf 4,5 % bei gleichzeitigen Leistungskürzungen zu erreichen (16.7.1930).
Dort, wo der Sozialdemokrat Müller seinen Hut nehmen mußte, trat jedoch Reichspräsident Hindenburg an die Seite Brünings, und das Finanzprogramm wurde in Kraft gesetzt - unter Anwendung des Art. 48 der Verfassung. Die Deckungsvorlage beruhte nun auf Notverordnungen des Reichspräsidenten. Am 18.7.1930 schlug das Parlament zurück und beschloß die Aufhebung der Notverordnung (Art. 48, 3). Dabei stimmten die Fraktionen der SPD, KPD, DNVP und die wenigen Abgeordneten der NSDAP gemeinsam gegen Brüning und die Notverordnung ab. Hindenburg und Brüning reagierten sofort, und dieser verkündete die Auflösung des Reichstages (Art. 25). Wenig später wurden die zuvor aufgehobenen Notverordnungen erneut erlassen. Faktisch beruhte das gesamte System der Präsidialregierungen auf einer Kombination von Art. 25 und 48 der Reichsverfassung zur Ausschaltung des Parlaments, welche so sicherlich nicht von den Verfassungsvätern vorgesehen worden war.
Es folgten vorgezogene Reichstagswahlen am 14.9.1930, deren Nutznießer ausschließlich die NSDAP war. Sie konnte 18,3 % der Stimmen für sich verbuchen, die Zahl ihrer Mandate von 12 auf 107 erhöhen und somit von einer belächelten Splitterpartei zur zweitstärksten Fraktion hinter der SPD im Reichstag aufsteigen. Die großen Verlierer waren DDP, DVP und DNVP. Brüning hingegen blieb mit der Unterstützung Hindenburgs Reichskanzler. Dennoch, hier trafen nun zwei Entwicklungslinien zusammen, die in der Krise der Republik kulminierten: Die Wirtschaftskrise und der von den Repräsentanten der alten Eliten, z.B. General Schleicher und Hindenburg, gezielt vorangetriebene Übergang von einer Parteiendemokratie zu einer autoritären Präsidialregierung, die wiederum alles daransetzte, Liberale und Sozialdemokraten aus der politischen Entscheidungsfindung auszuschließen, um das System zu Gunsten der alten Eliten zu modifizieren.
Die Reichstagswahlen im September förderten die Zersplitterung im Reichstag und führten sogar so weit, daß sich die SPD aus Verantwortung gegenüber dem Staat und aus Rücksicht gegenüber der Preußen-Koalition, die vom Zentrum mitgetragen wurde, genötigt sah, sich in einer "Tolerierungspolitik" zu üben und die folgenden Notverordnungen durch die Nichtunterstützung der Aufhebungsanträge indirekt mitzutragen. Die Folge war, daß sie als Partei des "Brüning-Blocks" für die Politik des Reichskanzlers mitverantwortlich gemacht wurde.
Den Arbeitslosen zu helfen war nicht die Priorität des Reichskanzler Brüning, als er für die Beitragserhöhung eintrat, vielmehr ging es ihm um die Reichsfinanzen, die vor der steigenden Last des stetig wachsenden Heeres der Arbeitslosen geschützt werden sollten. Dabei war es ihm weniger wichtig, die Arbeitnehmer mit höheren Beiträgen zu belasten und die Dauer der Auszahlungen des Arbeitslosengeldes immer weiter zu reduzieren, als vielmehr die Reichsfinanzen mit Hilfe von Ausgabenkürzungen zu sanieren (Deflationspolitik). Doch ohne finanzielle Mittel konnten die Arbeitnehmer bzw. die Arbeitslosen nicht konsumieren, und so verschärfte sich die Lage der Konsumgüterindustrie, und wieder wurden mehr Menschen entlassen. Ohne die Unterstützung des Staates wuchs die Zahl der Arbeitslosen und ebenso die Zahl derjenigen, die kein Arbeitslosengeld bezog. Die Wirtschaftskrise entwickelte sich zu einer "Arbeitslosenkrise". 1931 kam erschwerend hinzu, daß die angestrebte Zollunion mit Österreich abgelehnt wurde und zudem die österreichische Bankenkrise zusätzlich die deutschen Geldinstitute belastete. Die Folge war, daß noch weniger Kapital zur Verfügung stand.
Pragmatisch gesehen, hatten der ruinöse Zustand der deutschen Wirtschaft und das Millionenheer der Arbeitslosen für den konservativen und ausgesprochen national denkenden Brüning einen enormen Vorteil: Ein wirtschaftlich daniederliegendes Deutschland konnte die Siegermächte leichter zu einem Verzicht auf die ausstehenden Reparationsleistungen bewegen. Auf der Konferenz von Lausanne (Juni bis Juli 1932) war es dann soweit: Alle Reparationsleistungen (bis auf eine im Übrigen nie bezahlte Abschlußleistung) wurden gestrichen. Inzwischen war jedoch v. Papen Reichskanzler geworden. Immer noch ging es um den Versailler Vertrag. Doch um welchen Preis gelang es, die Reparationszahlungen einstellen zu können? Nach den Verlusten der Hyperinflation mußte die Bevölkerung nach wenigen Jahren des Broterwerbs die geringen Ersparnisse einsetzen, um ohne Arbeit überleben zu können. Die Schuld am ökonomischen Kollaps des Landes wurde nicht der revisionistischen Politik Brünings und damit auch nicht Hindenburg angelastet - in den Augen sehr vieler Deutscher trug die Republik und das für sie schwer zu durchschauende demokratische System die Schuld am Niedergang der Nation. Dabei ging im Verlauf der Ära Brüning nicht die Nation unter, sondern der deutsche Parlamentarismus. So tagte der dt. Reichstag 1930 noch an 94 Tagen im Jahr, 42 Tage 1932 und 13 Tage 1932. Ebenso reduzierten sich die vom Reichstag beschlossenen Gesetze von 1930 (98) bis 1932 (5)! Parallel zu diesen Vorgängen vermehrten sich die Gesetze, die als Notverordnungen in Kraft traten, von 1930 (5) bis 1932 (66). In den Jahren 1931 und 1932 kam es zudem in deutschen Städten immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen SA/SS und bes. dem "Roten Frontkämpferbund" (RFB, ca. 130.000 Mitglieder) welche die politische Lage immer weiter zuspitzten. Am 11.10.1931 veranstaltete die Rechte in Bad Harzburg ein gemeinsames Treffen, bei dem SA, SS, Stahlhelm u.a. aufmarschierten. Zwei Monate später wurde von der SPD, den linken Gewerkschaften und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (ca. 1000.000 Mitglieder) die "Eiserne-Front" ins Leben gerufen, welche als Symbol drei Pfeile verwendete.
Den von der Republik enttäuschten Menschen bot sich aus ihrer Sicht eine scheinbare Alternative: die NSDAP, welche sich seit ihrer praktischen Neugründung 1925 unter der unbestrittenen Führung Adolf Hitlers im ganzen Reich ausgedehnt und eine schlagkräftige Parteiorganisation aufgebaut hatte. Das schlechte Reichstagswahlergebnis von 1928 wurde durch die Mitarbeit im "Reichsausschuß" 1929 mehr als ausgeglichen, und Anfang der dreißiger Jahre profitierte die Partei um den "Führer" von der Politik Brünings, denn es gab mehr und mehr enttäuschte Wähler: Aufgrund des Ergebnisses der vorgezogenen Reichstagswahl vom 14.9.1930 konnte die NSDAP 107 Parlamentarier in den Reichtag entsenden. "Enttäuschte" meint in diesem Zusammenhang jedoch nicht arbeitslose Proletarier. Nicht nur die arbeitslosen lohnabhängigen Arbeiter, sondern andere abstiegsgefährdete Berufsgruppen, wie z.B. Angestellte und kleine Handwerker, bildeten in großem Umfang die Klientel der NSDAP. Bemerkenswerterweise war aber eher die Konfession als die Schichtzugehörigkeit bei der Wahlentscheidung für die NSDAP von Bedeutung, denn die Wahlergebnisse in protestantischen Gegenden des Reiches waren weitaus besser als in katholischen Gemeinden. Hier mag eine besondere Rolle gespielt haben, daß die NSDAP mit ihrer völkisch-nationalen Programmatik nichts eigentlich Neues auf den Markt der politischen Ideologien warf, sondern Altbekanntes vertrat, welches lediglich radikalisiert wurde und über eine uns heute erstaunende Intergrationskraft verfügte. Doch mit diesen Parolen konnte sich ein Zentrumswähler schon vor 1914 nicht leicht identifizieren. Im Vergleich zu den anderen "alten" Parteien war das eigentliche Neue an dieser Partei das Charisma ihres Führers. Die NSDAP war Adolf Hitler und Hitler war eine charismatische Führergestalt, und in seiner Wirkung auf die Massen und die Wähler war er sicherlich auch mehr als eine schlechte germanisierte Kopie des Duce, ebenso wie das nationalsozialistische Programm, welches Hitler in seinem Buch "Mein Kampf" veröffentlichte, wohl kaum mit der an Macchiavelli erinnernden Denkweise des ehemaligen radikalen Sozialisten und späteren Interventionisten Mussolini in direkte Beziehung gesetzt werden kann.
Die Reichspräsidentenwahlen 1932 zeigten deutlich, wie sehr sich die Republik in den vergangenen Jahren verändert hatte. Die Wähler votierten im ersten Wahlgang (13.3.1932) zwar eindeutig für den greisen Feldmarschall (49,6 %), doch Hitler, der inzwischen eingebürgert worden war, konnte 30,1 %, Duesterberg (Stahlhelm) 6,8 % und der Kandidat der KPD E. Thälmann 13,2 % der Stimmen auf sich vereinigen. Beim zweiten Wahlgang (10.4.1932) konnte Hindenburg zwar die absolute Mehrheit mit 53,0 % erringen, doch Hitler verbesserte sein Ergebnis auf 36,8 %. E. Thälmann hingegen verlor 3 %. Bei beiden Wahlgängen hatte die SPD auf einen eigenen Kandidaten verzichtet und ihre Wähler aufgefordert - trotz der Bedenken -, für Hindenburg zu stimmen. Der Reichspräsident wurde zwar wiedergewählt, doch ihm selbst bereitete diese Wahl große Schwierigkeiten, denn für ihn hatten sich die Parteien der "Mitte" eingesetzt (SPD, DVP, DDP - später deutsche Staatspartei u. BVP), aber ein Soldat wie v. Seekt hatte sich für Hitler ausgesprochen. Dieser hingegen wurde nicht nur von seinen Gefolgsleuten, sondern auch von der DNVP und anderen rechts-konservativen Gruppen unterstützt. Für den alten kaiserlichen Feldmarschall und ehemaligen Chef der diktatorisch regierenden 3. OHL war dieser Zustand eine verkehrte Welt. Immer mehr begann er an "seinem" Mann Brüning zu zweifeln. Das vom Innenminister Groener ausgesprochene SA- u. SS-Verbot (aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Zustände in vielen Städten), bekannt gewordene Pläne, ostelbische Rittergüter für Siedlungen freizugeben und der Einfluß des gegen Brüning opponierenden Generals v. Schleicher, dessen Einfluß auf Hindenburg über dessen Sohn Oskar immer mehr an Gewicht gewann, führten schließlich zum Rücktritt Brünings (30.5.1932), nachdem ihm der Reichspräsident das Vertrauen entzogen und ihn zum Rücktritt aufgefordert hatte (29.5.1932).
Ein Nachfolger wurde jedoch rasch in der Person des eher unbekannten Franz v. Papen (monarchistisch eingestellter Zentrumspolitiker, Hauptaktionär und Aufsichtsratsvorsitzender der Germania) gefunden, der wiederum von v. Schleicher (seit Juni 1932 Reichswehrminister) protegiert wurde. Ebenso wie Brüning war v. Papen ein Kanzler von Hindenburgs Gnaden, wobei Brüning als konservativer und erfahrener Zentrumspolitiker noch weitaus eher als eigenständiger Politiker und Kanzler angesehen werden kann als v. Papen, der nun seine Partei verlassen mußte. Praktisch regierte nun der Reichspräsident endgültig mit seinem Kanzler und über ihn und dessen "Kabinett der Barone" (7 von 10 Ministern gehörten dem Adel an). Nun wurde auch das SA-Verbot aufgehoben.
Am 31.7.1932 gab es eine erneute Reichstagswahl (Auflösung des Reichstages am 4.6.1932), denn Hindenburg und seine Getreuen wünschten sich eine Regierungsbeteiligung der NSDAP, der Hitler jedoch nur unter der Bedingung der Aufhebung des SA-Verbotes und neuen Wahlen zustimmen wollte. Beide Bedingungen wurden erfüllt. Rechtzeitig zur Wahl standen dem Führer seine Sturmabteilungen zur Verfügung, um die politischen Konflikte auf die Straße tragen zu können. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Juni und Juli 1932 wurden von der Reichsregierung zudem dazu genutzt, die geschäftsführende Landesregierung in Preußen unter dem Sozialdemokraten Otto Braun und Innenminister Carl Severing abzusetzen, welche seit den Landtagswahlen vom 24.4.1932 über keine Mehrheit im preußischen Landtag mehr verfügten und statt dessen einen Reichskommissar für Preußen einsetzten (sog. "Preußenschlag", 20.7.1932). Widerstand gegen dieses Vorgehen, welches einem Staatsstreich gleichkam, war aber undenkbar, denn dem Reichspräsidenten stand laut Verfassung die Möglichkeit offen, das Militär gegen ein widerspenstiges Land einzusetzen und die "Eiserne Front" war auch keine Bürgerkriegsarmee. Die Sozialdemokratie verlor auf diesem Wege ihre letzte Bastion im Reich und war in den folgenden Monaten praktisch handlungsunfähig. Hinzu kamen die Stimmenverluste am 31.7. (133, vorher 143 Mandate). Dennoch, auch für Papen und Hindenburg verlief nicht alles, wie erhofft. Die Stimmenanteile für die NSDAP waren mit 37,4 % (13,7 Mill. Stimmen bzw. 230 Mandate) so hoch, daß Hitler nicht nur an der Regierung beteiligt werden wollte, er forderte nun auch das Kanzleramt für sich. Hindenburg lehnte brüsk ab (13.8.1932), und es kam zu Verhandlungen über alle Parteigrenzen hinweg, z.B. zwischen Zentrum und NSDAP. So wurde mit den Stimmen des Zentrums Göring zum Reichstagspräsidenten gewählt. Aber trotz aller Erfolge auf dem Felde legitimer politischer Aktivitäten, die Führerpartei geriet allmählich unter Druck, denn auch wenn nach außen immer der Anschein der Legitimität aufrechterhalten werden sollte, die aktiven Parteikader waren in ihrem Drang nach Aktionismus kaum zu bremsen, und die Unzufriedenheit mit der "hadernden" Parteiführung führte zu inneren Querelen und zu einer tiefen Krise. Ihren Ausdruck fand sie Krise in den Reichstagswahlen vom 6.11.1932, welche durch die Nichtbeteiligung der NSDAP an einer Regierung Papen notwendig geworden war, in denen die Partei 4,3 % verlor und auf 33,1 % abrutschte. Doch noch immer weigerte sich Hitler, an eine Regierungsbeteiligung zu denken - auch hier folgte ihm die Partei. Dabei waren Männer wie Strasser durchaus gewillt, an einer Regierung ohne einen Kanzler Hitler mitzuarbeiten. Hitler hatte die "Bewegung" aber fest im Griff, und seine Strategie zeigte erste Erfolge. Papen trat zurück, nachdem er mit Plänen, die praktisch einem Putsch gleichkamen, bei Hindenburg und Schleicher gescheitert war. Hindenburg ernannte jetzt den bisherigen Reichswehrminister General v. Schleicher am 3.12.1932 zum Reichskanzler. Schleicher beabsichtigte, seine Regierung nicht auf die Parteien zu stützen, sondern auf die Gewerkschaften. Er machte den SPD nahen Gewerkschaften ebenso sozialpolitische Avancen wie den Arbeitnehmerverbänden der NSDAP. Rechte und linke Organisationen lehnten aber die Zusammenarbeit ab, und das einzige Ergebnis dieser Vorgehensweise war, daß Schleicher jetzt als "roter General" zusätzlich das Vertrauen der konservativen Kreise und der Industrie verlor, die ein Zusammengehen von Reichswehr und Gewerkschaften befürchteten. Einige einflußreiche Industrielle und Agrarier traten sogar beim Reichspräsidenten für die Reichskanzlerschaft Hitlers ein, der zuvor - bis auf einige wenige Ausnahmen wie Thyssen und Kirdorf - sicherlich kein Wunschkandidat der deutschen Industrie war. Nun griff auch v. Papen erneut in das Geschehen ein - wenn auch vorläufig nur im Verborgenen. Am 4. Januar 1933 trafen sich im Kölner Privathaus des Bankiers v. Schroeder. Hier koordinierten Hitler und v. Papen in ersten Ansätzen ihre Pläne. Ende Januar stand fest, daß die kommende Regierung folgendermaßen aufgebaut sein sollte: Reichskanzler - Hitler; v. Papen - Vizekanzler und Reichskommissar für Preußen; Hugenberg (DNVP) - Wirtschafts- und Landwirtschaftsminister, Frick (NSDAP) - Innenminister und Göring stellvertretender Reichskommissar für Preußen. Drei Nationalsozialisten wurden jetzt von insgesamt neun Konservativen Ministern "eingerahmt".
Jetzt mußte nur noch der greise Feldmarschall von dieser Lösung überzeugt werden, in der der von ihm wenig geachtete böhmische Gefreite zum Reichskanzler aufsteigen sollte. Die Camarilla um Hindenburg und ganz besonders sein Sohn Oskar konnten ihn schließlich überzeugen. Hindenburg entzog Ende Januar General Schleicher seine Unterstützung, nachdem dieser ähnlich wie Papen Hindenburg einen Staatsstreich nahe gelegt hatte, und reichte am 28.1.1933 seinen Rücktritt ein. Hitler wurde am 30.1.1933 vom Reichspräsidenten als Reichskanzler vereidigt, und der deutsche Reichstag wurde aufgelöst. Aber die "Machtübernahme" des neuen Reichskanzlers war kein Putsch oder Staatsstreich, sondern entsprach, zumindest vordergründig, der Verfassung. Hitlers Regierung beruhte auf der von Hindenburg gewährten Unterstützung, ähnlich wie sie vorher Brüning, v. Papen und Schleicher gewährt worden war. Doch einen wichtigen Unterschied gab es. Zwar verfügte Hitler ähnlich wie seine Vorgänger über keine Mehrheit im Parlament, aber er hatte eine schlagkräftige Parteiorganisation hinter sich stehen, kontrollierte wichtige Ministerien und wollte nun die Macht auch nicht mehr aus den Händen geben, und weder die SPD noch das Zentrum konnten sich zu einem entschlossenen Vorgehen aufraffen. Die SPD nicht, weil sie seit dem Preußenschlag über keine Machtmittel mehr verfügte, und das Zentrum nicht, weil dort Überlegungen über eine Zusammenarbeit mit der NSDAP angestellt wurden. V. Papens Hoffnung auf eine "Einrahmung" der NS-Minister und ein Scheitern des neuen Kanzlers erwiesen sich letztlich als Wunschvorstellung. Zu einer "Machtergreifung" war es gar nicht gekommen, Hitler hatte die Macht auf ebenso legalem oder eben auch nicht legalem Wege an sich gebracht wie Schleicher, v. Papen oder Brüning. Das machte die Bekämpfung des Kanzlers Hitler auch so schwer, denn so mußten z.B. kampfbereite Sozialdemokraten oder Zentrumspolitiker praktisch in die Illegalität abtauchen, um für die Legalität zu kämpfen. Abgesehen davon, daß dieser Schritt drei Jahre zu spät gekommen wäre, welcher staatstragende SPD-Genosse oder Katholik hätte diesen Weg gehen wollen? 1934 wurden Strasser und Schleicher auf Anweisung des "Führers" im Verlauf des sog. "Röhm-Putsches" ermordet. Zuvor hatten die ersten Wellen des Terrors mögliche Gegner des Systems in die Konzentrationslager gespült.


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Deutungsansätze und Kontroversen der Geschichtswissenschaft zum Scheitern der Republik

Waren das Scheitern der Demokratie und die Hitler-Diktatur unvermeidbar, oder hätte es bis zum Januar 1933 Alternativen gegeben? Welche Personen, Interessengruppen oder strukturelle Vorbedingungen tragen aus damaliger und aus heutiger Sicht ihren Anteil an der Machtübernahme Hitlers? Diese oder ähnlich formulierte Fragen stehen bei der Auseinandersetzung mit der Endphase der Weimarer Republik im Vordergrund: Das Verderben, welches der Nationalsozialismus über Europa und mit der Ausweitung des "europäischen Bürgerkrieges" zum Weltkrieg über nahezu alle Völker der Welt brachte, ruft geradezu nach Erklärungen zur Machtübernahme oder vielleicht besser der Machtübergabe im Jahre 1933.
Sicherlich, der "Kompromiss" Weimar wurde 1918/19 und auch in den folgenden Jahren lediglich von einer Minderheit der Einwohner des Deutschen Reiches wirklich mitgetragen, und nur wenige waren wirklich bereit, die Republik auch unter Opfern zu verteidigen - sei es im persönlichen Bereich, wenn es um die eigene Karriere ging, oder im gesellschaftlichen Bereich, wenn es darum ging, die "importierte" westliche Demokratie gegen ihre Gegner zu verteidigen. So wie sich seit 1918 die radikale Linke und radikale Rechte in ihren Organisationen für ihren Kampf rüsteten, so standen sich staatstragende Sozialdemokratie, katholisches Zentrum und liberales Bürgertum auch nicht immer freundlich gegenüber. Im Kaiserreich konnten diese Gruppen ihre Positionen im Parlament bestenfalls als Gegenentwürfe vertreten und waren nie in der Regierungsverantwortung und konnten somit auch nicht den Parlamentarismus "erlernen".
Ausgehend von dieser Sichtweise erlangen die Ereignisse um den Rücktritt Müllers und die "Machtübernahme" Brünings Bedeutung. Denn bereits mit der Installierung und dem Festhalten an den Präsidialkabinetten bzw. dem Präsidialsystem wurde der Parlamentarismus entscheidend geschwächt und die demokratischen und republiktreuen Parteien bzw. deren Vertreter wurden ins Abseits gedrängt. Die alten Eliten des Kaiserreiches, Großagrarier, Bankiers, Militärs und Industrielle sahen nun die Möglichkeit, ihre verloren geglaubten Positionen zurückerlangen zu können. Dabei übersah aber diese wirtschaftliche und gesellschaftliche Führungsschicht, daß die NSDAP mehr war als ein Trommlerverein für ihre Zwecke. Ebenso wie die Turiner Industriellen, die Florentiner Akademiker und die Großgrundbesitzer des Südens übersah die alte Elite in Deutschland, daß Faschismus und Nationalsozialismus keine Restaurierung des alten Systems beabsichtigten sondern selbst die Macht in Händen halten wollten.
Unvermeidbar war die Machtergreifung noch im Jahre 1932 sicherlich nicht, doch wer hätte unter den inzwischen herrschenden Bedingungen auftreten und Hitler hindern sollen - gegen einen ehemaligen Feldmarschall, der Reichspräsident war und dem die Verfassung die Möglichkeit bot, die Reichswehr einzusetzen? Lediglich die alten Eliten hätten einen Bürgerkrieg vermeiden können, doch sie sympathisierten nicht mit der Republik, sondern mit eben diesem Reichspräsidenten und dessen autoritärer Vorgehensweise.
Die Feststellung K. D. Erdmanns, daß die Republik "...an sich selbst zugrunde gegangen...(sei)" ist kaum haltbar, denn weder die SPD, das Zentrum, die DDP noch alle anderen demokratischen Parteien und Gruppierungen haben die Republik zerstört. Diese Verantwortung hatten und haben konservative, nationalistische und autoritäre Parteien, Verbände und einzelne herausragende Personen wie Hindenburg, Brüning, Papen und Schleicher zu tragen.

Gegensätze in der Deutung der Endphase der Weimarer Republik gab es nach dem Ende des II. Weltkrieges zwischen der marxistischen Historiographie der DDR bzw. marxistisch orientierten Historikern der Bundesrepublik und bürgerlichen Historikern im Westen Deutschlands. Zudem kann zwischen frühen monokausalen Erklärungsversuchen (z.B. Weltwirtschaftskrise, Rolle der Reichswehr, Rolle der Industrie, Autoritätsgläubigkeit usw.) und späteren multikausalen Ansätzen unterschieden werden.
Auf der linken Seite wurde und wird besonders auf die Bedeutung der Schwerindustrie, der Banken und der Großagrarier verwiesen, während im Laufe der vergangenen 50 Jahre im Westen unterschiedliche Deutungsansätze herausgestellt wurden. So wurde das Versagen der demokratischen Politiker ebenso betont wie inhärente Fehler des politischen Systems. Hierbei sind besonders die fehlende Sperrklausel, wobei jede noch so kleine Partei berücksichtigt wurde, und besonders die Position des Reichspräsidenten hervorzuheben. Wobei die Machtfülle des Reichspräsidentenamtes wiederum auf den Art. 25, 41, 46 und 48 der Weimarer Reichsverfassung beruhte. Andere Untersuchungen betonen hingegen stärker die ablehnende Haltung der alten Eliten und sozialen Gruppen gegenüber der Demokratie, welche ihre Stellung in Armee, Bürokratie, Justiz usw. nach dem I. Weltkrieg nahezu unbeschadet in die Republik hinüberretten konnten und diese Positionen von neuen aufsteigenden Gruppen gefährdet sahen. Hier sei K. D. Bracher genannt, der 1955 "Die Auflösung der Weimarer Republik" veröffentlichte und die Bedeutung der zerstörerischen Arbeit von Interessengruppen herausstellte. In den sechziger Jahren entwickelten sich die Anfangsjahre der Republik zu einem Forschungsschwerpunkt. Die Annahme war, daß, wenn in den frühen 30er Jahren die Republik an strukturellen Mängeln gescheitert war, diese Mängel bereits 1918/19 in der Verfassung festgelegt worden seien. Ebenfalls in den sechziger Jahren setzte eine Diskussion um die Mittelphase der Republik ein ("Ära Stresemann"), in der z.B. die wirtschaftliche und soziale Entwicklung näher beleuchtet wurde. In neuerer Zeit setzt sich die Geschichtswissenschaft, z.B. unter Berücksichtigung der Lebenswelt der Menschen, erneut mit der Endphase der Republik auseinander, wobei das Wählerpotential der NSDAP besonders beleuchtet wird. Interessant sind diese Arbeiten besonders deshalb, weil entgegen der weit verbreiteten Position, daß die Arbeitslosen die Partei an die Macht gebracht hätten, nachgewiesen wird, daß die Arbeitslosen eher in Richtung KPD tendierten, die NSDAP hingegen über ein breit gefächertes Wählerpotential verfügte und besonders gute Ergebnisse in der abstiegsgefährdeten Mittelschicht erzielen konnte.
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß monokausale Erklärungsversuchen für das Scheitern der Republik aufgegeben wurden, und daß sich stattdessen multikausale Erklärungsversuche weitaus besser für das "Phänomen" Weimar eignen. Dabei werden Verfassung und z.B. die Position des Reichpräsidenten innerhalb der verfassungsmäßigen Vorgaben, wirtschaftliche Entwicklung, politische Ideologie und Kultur, z.B. der Parteien und Interessengruppen, Entwicklung der sozialen Lage und die Bedeutung einzelner Politiker herausgestellt.

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